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Richard von Weizsäcker bei seiner Vereidigung zum Bundespräsidenten am 1. Juli 1984

© dpa/Horst Ossinger

Richard von Weizsäcker: Ein Jahrhundertleben

Richard von Weizsäcker umwehte ein Hauch von idealer Präsidentschaft. Mit seiner Rede zu 40 Jahren Kriegsende brachte er die Irrungen und Wirrungen der jüngeren deutschen Geschichte katharsishaft ins Reine.

Ein Mensch, der in einem Alter stirbt, das weit hinausreicht über die achtzig Jahre, die die Bibel dem Menschen im besten Fall billigt, ist in dem meisten, was seine Existenz ausmachte, Vergangenheit. Im Fall von Richard von Weizsäcker, dem langjährigen Bundespräsidenten und früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, rührt sie an das Ganze der Bundesrepublik, an ihr äußeres und ihr inneres Dasein als historische Erscheinung und politisches Gemeinwesen.

Denn das Leben, das am Sonnabend im Alter von 94 Jahren zu Ende gegangen ist, war ein Jahrhundertleben. Und das nicht nur wegen der staunenswerten Lebenszeit, die es dauerte, bis in seine späten Tage in ungewöhnlicher Präsenz. Sondern wegen der Fülle an gelebter Zeit, die es umfasste, und der Wirkungen, die von ihm ausging. Ohne ihn hätte die Bundesrepublik anders ausgesehen. Das Deutschland, das wir geworden sind, verdankt sich auch Richard von Weizsäcker.

Ein Hauch von idealer Präsidentschaft

Natürlich sind es vor allem die zehn Jahre, in denen er das Amt des Bundespräsidenten bekleidet hat, die ihn zu einer eindrucksvollen Größe der deutschen Nachkriegsgeschichte gemacht haben. Denn er war ein vorzüglicher Präsident. Und das gute Jahrzehnt seit seinem Ausscheiden aus dem Amt hat ihn zwar dem aktuellen Geschehen zunehmend entrückt, aber doch nicht so weit, dass sein Umriss in der Erinnerung der meisten nicht noch gegenwärtig wäre: Die einprägsame Physiognomie, die Eleganz seines Auftretens, die Überzeugungskraft seiner Rede. Ein Hauch von idealer Präsidentschaft umwehte ihn, und ungeachtet der guten und sehr guten Präsidenten, die die Bundesrepublik gehabt hat, war er doch der herausragende Vertreter des Amtes seit Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten.

Auch weil es Weizsäcker gelang, den eigentümlichen Charakter dieses Amtes - den Mangel an Kompetenzen, dem Fehlen der exekutiven Macht – in einer Weise in Einfluss auf das politisch-moralische Klima des Landes zu verwandeln, die realer Macht schon fast gleichkam. Mit seinen Appellen und Fragen, mit seinen Reisen, Empfängen und Staatsbesuchen hat er das Bild der Republik geformt. Als politische Instanz besaß er zeitweise im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine geradezu überwältigende Unangefochtenheit – der Politiker ohne Fehl und Tadel, nahe an der nicht unproblematischen Sehnsuchtsfigur des Ersatzkönigs. Wobei er, ausgestattet mit einem hohen Selbstgefühl, auch nicht immer ganz immun gegen die Verführung war, das alte Traumbild vom Philosophen auf dem Thron in seiner Rolle verwirklicht zu sehen. Gleichwohl: Für viele war er ein Versprechen des Staatswesens, das wir gerne hätten – liberal, aufgeklärt, weltläufig, mit sich und den Nachbarn versöhnt.

Man braucht nicht zu verschweigen, dass Weizsäcker bei allem seinem Charme und seiner gewinnenden Liebenswürdigkeit ein Politiker von hoher, sehr bewusst eingesetzter Professionalität war. Er verstand es, die öffentlichen Stimmungen zu nutzen und hat zumal den Umgang mit den Medien zu hoher Kunst entwickelt. Vor allem aber antwortete er auf das Bedürfnis, das sich mit den kulturkritischen sechziger und siebziger Jahren im Land ausbreitete: dass Politik besser sein müsste als die Alltagsausgabe, die täglich über den Bürger hinein bricht – perspektivischer, sachlicher und ungetrübt durch das Übermaß parteilicher Manöver. Es machte seine Überzeugungskraft aus, dass in ihm, in seinen Reden und Erklärungen wirklich etwas von einer besseren Politik spürbar war. Richard von Weizsäcker hat vorgeführt, dass es einen Umgang mit Politik gibt, der den Maßstäben vernünftigen Urteilens, angemessener Differenzierungen und sachgerechter Argumentation entspricht. Schon das machte ihn, immer wieder, zu einem Lichtblick.

"Die Rede" brachte die Irrungen deutscher Geschichte ins Reine

Zum Ereignis wurde dieses Vermögen in der Rede, die er am 8. Mai 1985 zur vierzigsten Wiederkehr des Kriegsendes im Bundestag gehalten hat – "die Rede", wie sie nach kurzer Zeit in schlagender Verkürzung hieß. Und war sie nicht tatsächlich ein glänzendes Beispiel für den Umgang mit dem Thema, das für die Deutschen das unauflösliche Problem ihrer Existenz ausmacht? Vielleicht kann niemand die Wirkung dieser Rede ganz nachvollziehen, der sie damals nicht gehört hat. In einer knappen Stunde vollzog sich so etwas wie ein klärender Wetterwechsel, der lange quälende Verkrampfungen aufzuheben und lastende Irrtümer zurechtzurücken schien. Dabei war ihr Inhalt nicht eigentlich umwerfend neu. Gewiss setzte ihr die sozusagen staatsoffizielle Taufe des 8. Mai 1945 als eines Tages der Befreiung eine explosive, auch provokative Spitze auf. Aber die Wirkung reichte doch weit darüber hinaus: Sie bestand darin, dass das Staatsoberhaupt in einer beispielhaften, analytischen und therapeutischen Anstrengung die Irrungen und Wirrungen der jüngeren deutschen Geschichte vor allen Deutschen ansprach und katharsishaft ins Reine brachte.

Und dass dieses Unternehmen beglaubigt war von Leben und Erleben des Redners. Denn kein Politiker hat sich so wie er auf die Geschichte der Deutschen in dem vergangenen, katastrophalen Jahrhundert eingelassen, auf ihre Brüche und Kehren und die Versuche, sie aufzuarbeiten; er hat sich nicht nur mit ihnen – wie man so sagt – auseinandergesetzt, sondern er hat sie in ihrer Spannungshaltigkeit angenommen und zum Thema gemacht.

Die Sorge um die Einheit wurde zu seiner Sache

Ob als Kirchentagspräsident in den sechziger und siebziger Jahren, der sich dem aufbrechenden Problembewusstsein der Bundesrepublik stellte, die damals ihrer Gründungszeit entwuchs. Ob als junger CDU-Abgeordneter im Bundestag, der seine parlamentarische Feuerprobe im Kampf um die Ostverträge absolvierte – gegen die Mehrheit der eigenen Partei. Ob in den achtziger Jahren, als die Republik dabei war, in eine auf Dauer gestellte Zweistaatlichkeit zu driften, und Weizsäcker unverdrossen die Frage nach deutscher Identität und zeitgemäßem Patriotismus aufwarf. "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist", hieß die fanalhafte Losung, mit der er damals der Neigung entgegentrat, die Akten über das Thema der deutschen Einheit zu schließen.

Als es dann offen war, empfand Weizsäcker – was zu dieser Haltung gehört – zwar tiefe Freude, aber auch eine Art heiligen Schrecken. Denn die Einheit war ja anders gekommen als es die Parteigänger einer planvollen, europäisch orientierten Entspannungspolitik gedacht hatten. Die Antwort, die Weizsäcker darauf fand, bestand darin, dass er die Einheit und die Sorge um sie zu seiner Sache machte.

Der Kanzler der Einheit war Kohl, Willy Brandt der Visionär, der zusammenwachsen sah, was zusammengehörte, zum Warner vor der Gefahr, dass die beiden Deutschlands zusammenwuchern könnten, wurde Weizsäcker. Zugleich gewannen die Vereinigung in ihm und seinem Amt eine sinnfällige Figur. Er wurde das letzte Staatsoberhaupt der Bundesrepublik, als diese noch nicht ahnte, dass sie bald zur Alt-Bundesrepublik werden würde. Und er wurde der erste Präsident des vereinten Deutschland, dem es zukam, in der Nacht vom 2. auf den 3.Oktober 1990 vor dem Reichstag den Vollzug der deutschen Vereinigung zu verkünden.

Herkunft aus der Elite

Aber keiner unter den deutschen Präsidenten war ja auch so eingewurzelt in der deutschen Geschichte, in ihren Glanz und ihre dunklen Seiten. Richard von Weizsäcker war einer der ganz wenigen Nachkriegspolitiker, der aus der alten deutschen Führungsschicht stammte: Der Großvater württembergischer Ministerpräsident, der Vater kaiserlicher Seeoffizier, dann Botschafter und schließlich Staatssekretär im Auswärtigen Amt, er selbst Mitglied in dem berühmten Potsdamer Regiment IR 9, wegen der vielen Mitglieder aus altem Adel spöttisch "Graf Neun" genannt.

Unter dem Politikerpersonal der Bundesrepublik habe er – wie die kluge Brigitte Sauzay, Dolmetscherin der französischem Präsidenten, einmal bemerkte – "die Aura und das Charisma des ’Deutschland’ von ehedem am meisten bewahrt". Aber keiner war auch so eng mit der zwiespältigen Rolle der deutschen Elite, ja, der Deutschen überhaupt im Nationalsozialismus konfrontiert.

Schwierige Rolle des Vaters als Exempel

Es machte das Faszinierende und zugleich Herausfordernde dieses Lebens aus, dass die politische Leitfigur, die Richard von Weizsäcker wurde, diese Nähe zur Verstrickung und dem Scheitern der deutschen Elite zum Hintergrund hatte. Zum Exempel geworden im Verhalten des eigenen Vaters, der – wie immer man seine Versuche des Gegensteuerns bewertet – des Teufels Diplomat war, während zahlreiche Regiments-Kameraden des Sohnes zu den Opfern des Widerstands gegen das Regime gehörten.

Rechnet man hinzu, was dazu gehört – den Krieg, den Weizsäcker sechs Jahre lang bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, eingeschlossen den Soldatentod des Bruders, außerdem die eineinhalb Jahre als Hilfsverteidiger des Vaters in dem Nürnberger Prozess gegen die Eliten des Dritten Reiches, in dem zum ersten Mal die ganz Wahrheit über die nationalsozialistischen Verbrechen ans Licht kam, so wäre das in klassischen Zeiten der Stoff für eine Tragödie. In unserem Jahrhundert, für Weizsäcker blieb es ein lebenslanges Thema mit traumatischen Zügen.

Ist er je mit ihm ins Reine gekommen? Er selbst würde vermutlich gesagt haben, dass das nicht möglich sei. Jedenfalls: Wann immer das Thema aufkam, ist Weizsäcker keinen Zentimeter von seinem Vater abgerückt – und reagierte unwirsch, empfindlich, ja verletzt.

Doch zu dem Weizsäcker, der ein halbes Jahrhundert des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik mitschrieb, gehörte auch die Offenheit seines Naturells und eine große Unbefangenheit. Wenn ihm etwas fremd war, dann mentale Enge, zumal die des Parteipolitikers, der – wie Bismarck spottete – immer nur an seiner Fraktionsmatratze stopft.

Bevor er Politiker wurde, hatte er – was in der deutschen Politik selten ist – eine ansehnliche Karriere in der Wirtschaft absolviert. Er war fast fünfzig Jahre alt, als er, 1969, zum ersten Mal ein politisches Mandat errang. Und der Politiker, der er wurde, verdrängte nie den Kulturbürger, der er war. Weshalb er Kultur nicht als Gegensatz der Politik, sondern als ihre höchste Gestalt begriff – "Kultur, verstanden als Lebensweise ist vielleicht die glaubwürdigste, die beste Politik", lautete die Essenz dieser Überzeugung. Eröffnet sie einen Blick ins Innerste seiner Existenz? Der Abend in der Philharmonie – Ort des Glücksgefühls "in der Mitte der Weit zu sein" – zog er jedenfalls jeder Parteiveranstaltung vor.

Berlin war ein erstaunliches Kapitel

Berlin hat Anlass, Richard von Weizsäckers ein besonderes Gedanken zu widmen, denn die Stadt spielte in einem Leben eine maßgebende Rolle. Er selbst hat sich als Berliner empfunden, obwohl er seiner Herkunft nach Schwabe war und in Stuttgart geboren wurde. Doch die entscheidenden Jahre des Aufwachsens hat er im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre verbracht. Und in den wenigen Jahren zwischen 1978 und 1984 erkämpfte er sich erst das Amt des Regierenden Bürgermeisters, um es dann zu einem Erfolg zu führen. Er machte damit Epoche in Berlin – das traditionell sozialdemokratische Berlin wurde für bald zwei Jahrzehnte zur CDU-Domäne. Aber Berlin wurde für ihn auch zu dem Ort, an dem er von der politischen Hoffnung zur Gestalt von nationalem Rang wurde.

Die Berliner Jahre, die Beziehung zur Stadt, nach dem Eindruck eines seiner engsten Mitarbeiter "eine große und manchmal schmerzvolle Liebe", bleiben ein erstaunliches Kapitel seines Lebens. Sie zeigten Weizsäckers große Fähigkeit, durch Psychologie und klug dosierte Machtpolitik das Klima in der Stadt zu verändern und ihr zu neuem Lebensmut zu verhelfen. In der geteilten, politisch exponierten Stadt kristallisierten und formierten sich aber auch die Haltung und die Überzeugungen, mit denen er dann als Präsident in die Breite der deutschen Gesellschaft wirkte.

Nicht vergessen werden sollte auch, dass keiner sich so in der Auseinandersetzung um die Hauptstadt-Rolle für die Berlin eingesetzt hat wie Richard von Weizsäckers. Als die Frage durchaus auf der Kippe stand – Mitte 1990 –, entschloss er sich, bis an die Grenzen der Kompetenzen seines Amtes zu gehen, um für Berlin Partei zu ergreifen. Und als die Hauptstadtfrage entschieden war, aber gleichwohl zur endlosen Geschichte zu werden drohte, weil an ihr immer noch herumgezerrt und gezogen wurde, setzte er Fakten und kündigte an, künftig hauptsächlich von Berlin aus zu amtieren. Seither wohnte er in der Stadt, in einer Nebenstraße am Grunewald, als geachteter und beliebter Mitbürger, mehr als zwei Jahrzehnte lang: eine Gestalt der Politik, die ein beispielhaftes Bild Deutschlands vorgelebt hat, eine denkwürdige Existenz.

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