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Pflanzenburger (Foto) und Kulturfleisch aus der Petrischale können den steigenden Lebensmittelbedarf bedienen.

© Arnd Wiegmann/REUTERS

Revolution der Lebensmittelherstellung: So kann sich Europa als führender Standort für Food-Tech positionieren

Kulturfleisch und Pflanzenburger: Die neue Industrie passt zu Europa, das für seine Küche und hochwertige Lebensmittel bekannt ist. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Ann-Kristin Achleitner

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Ann-Kristin Achleitner, Distinguished Affiliated Professor an der Technischen Universität München. Weitere Autoren und Autorinnen sind Sigmar Gabriel, Günther Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup, Jürgen Trittin und Prof. Dr. Renate Schubert.

Als der Kaffee im 16. Jahrhundert nach Europa kam, gab es Widerstand. Die Bischöfe in Italien verteufelten ihn. Französische Winzer versuchten, die neue Konkurrenz zu diskreditieren: Mit ärztlicher Schützenhilfe säten sie gesundheitliche Zweifel am Kaffeegenuss.

Innovationen lösen immer wieder gesellschaftliche Kontroversen aus. Die meisten Widerstände gehen auf wirtschaftliche Motive zurück. Aber auch Identitäten und Lebensstile, Kultur und Traditionen wie das Kaffeehaus können eine Rolle spielen. Bei Lebensmitteln kommen all diese Aspekte zusammen. Innovationen haben es dann oft schwer.

Dabei ist das Thema aktueller denn je. Eine große globale Herausforderung besteht darin, die wachsende Weltbevölkerung mit Lebensmitteln, insbesondere Eiweiß, zu versorgen. Ohne Innovationen wird dies kaum gelingen, vor allem weil die Produktion deutlich nachhaltiger werden muss.

Die Nachfrage nach Lebensmitteln dürfte um 50 Prozent steigen bis 2050

Die Lebensmittelproduktion ist schon heute für gut ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Einer der Hauptgründe: der Hunger auf Fleisch, vor allem in den USA, Europa und China. Die Erzeugung verursacht hohe Emissionen, und der steigende Flächenbedarf für Weiden und den Futtermittelanbau beschleunigt die Abholzung von Regenwäldern, die wichtige CO2-Speicher sind.

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Während die Weltbevölkerung bis 2050 um rund 25 Prozent wachsen wird, dürfte die Lebensmittelnachfrage im selben Zeitraum um etwa 50 Prozent steigen. Da mit größerem Wohlstand in der Regel auch die Kalorienaufnahme steigt, erwarten Experten, dass die Nachfrage nach eiweißhaltigen Produkten wie Fleisch und Milch sogar um 70 Prozent zunimmt. Vor diesem Hintergrund sind zwei Food-Tech-Innovationen von besonderem Interesse: Fleischersatz auf Pflanzenbasis und Kulturfleisch.

Während Kulturfleisch aus tierischen Stammzellen gewonnen wird und in Bioreaktoren heranwächst – also eine Errungenschaft der modernen Biotechnologie ist –, reicht der Ursprung pflanzenbasierten Fleischersatzes bis ins Mittelalter zurück: die vegetarisch lebenden buddhistischen Mönche in China erfanden „Fake Meat“, um den fleischliebenden Gästen ihrer Klöster etwas bieten zu können.

Ein Pflanzenburger verursacht kaum Treibhausgas

Bei pflanzenbasiertem Fleischersatz fällt nicht nur der Flächen- und Wasserbedarf deutlich geringer aus als bei herkömmlichem Fleisch. Seine Produktion verursacht auch weniger Treibhausgase: im Fall eines Pflanzenburgers etwa 90 Prozent weniger als bei einem Rinderburger. Auch Kulturfleisch lässt sich gemessen an Ressourcenbedarf und Emissionen um mehr als 75 Prozent nachhaltiger herstellen als Rindfleisch.

Rund um diese Innovationen entsteht gerade ein neuer Markt. Etwa die Hälfte der Verbraucher in den USA, Großbritannien und Deutschland nehmen bereits regelmäßig pflanzenbasierte Eiweiße zu sich. Der Markt für pflanzlichen Fleischersatz ist dagegen noch jung. Würde er einen ebenso hohen Anteil wie pflanzenbasierte Milch erreichen, erwüchse daraus alleine in den USA ein Marktpotenzial von 14 Milliarden Dollar. Fachleuten zufolge wird sich die Größe des Markts für pflanzenbasierte Eiweiße und Kulturfleisch in den USA bis zum Jahr 2050 verdoppeln.

Treiber der Innovationen sind vor allem Startups. Die Szene hat weltweit im vergangenen Jahr rund 350 Millionen Dollar Kapital eingesammelt, Tendenz steigend. Zu den Investoren gehören nicht nur große Fleischproduzenten und Lebensmittelkonzerne, sondern auch Tech-Investoren wie Bill Gates und Richard Branson. Während pflanzenbasierter Fleischersatz bereits Einzug in Supermärkte und Grillrestaurants hält, steht die Zulassung von Kulturfleisch in der EU noch aus.

Pioniere des Kulturfleischs sind das niederländische Unternehmen Mosa Meat, dessen Gründer 2013 den ersten zellbasierten Burger präsentierte, und das israelische Startup Aleph Farms mit dem ersten Ribeye-Steak aus dem 3-D-Biodrucker. Demnächst will auch das Rostocker Startup Innocent Meat im Markt mitmischen.

Nachdem die Produktionskosten von Kulturfleisch seit den ersten Versuchen bereits um 99 Prozent gesunken sind, könnte es laut McKinsey im Jahr 2030 bereits genauso preiswert sein wie herkömmliches Fleisch – mit einem weltweiten Marktpotenzial von bis zu 25 Milliarden Dollar. Ein Knackpunkt bei Kulturfleisch wird die gesellschaftliche Akzeptanz sein. Das Technikradar der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) zeigt, dass erst rund ein Viertel der Deutschen von dieser Alternative überzeugt ist.

So kann Europa die Revolution mitgestalten

Ich sehe sieben Ansatzpunkte, wie wir die neue Lebensmittelrevolution aus Europa heraus forcieren und mitgestalten können, und zwar nicht nur bei Fleisch und Fleischersatz, sondern auch darüber hinaus.

Erstens: Wir müssen die Wachstumsfinanzierung in Europa weiter stärken. Spezialisierte Fonds, die in Food-Tech-Unternehmen investieren, sind bislang rar.

Zweitens: Wir sollten innovative Ökosysteme rund um nachhaltig produzierte Lebensmittel und Food-Tech fördern. Europa hat hier weltweit führende Forschungseinrichtungen. Deren Kompetenz zu verknüpfen mit der wachsenden Startup-Szene, der Industrie und mit Wagniskapitalgebern, birgt große Innovationspotenziale.

Drittens: Europa sollte sich frühzeitig als führender Standort für Food-Tech positionieren. Die neue Industrie passt zu unserem Kontinent, der einen exzellenten Ruf für gute Küche und hochwertige Lebensmittel genießt und schon heute der größte Exporteur von Lebensmitteln ist. Europa sollte die Ambition haben, Leitmarkt und Leitanbieter nachhaltiger und innovativer Lebensmittel zu werden.

Viertens: Die EU sollte rasch mit einem transparenten, wissenschaftsbasierten Zulassungsverfahren für Kulturfleisch zeigen, dass ambitionierte Innovationsförderung und ein hohes Niveau an Verbraucherschutz keine Widersprüche sind. Singapur hat als erstes Land bereits Kulturfleisch zugelassen.

Fünftens: Europa sollte Standards setzen bei Kennzeichnungen, mit denen sich die Nachhaltigkeit von Lebensmitteln einfach nachvollziehen und vergleichen lässt.

Sechstens: Wir sollten die Förderung verschiedener Zukunftstechnologien gezielt miteinander verknüpfen. Damit zum Beispiel aus Kulturfleisch wirklich „Clean Meat“ wird, muss die Produktion weitgehend auf erneuerbaren Energien basieren. Weitere Innovationsbeschleuniger für die neue Lebensmittelrevolution sind Biotechnologie, Künstliche Intelligenz und der 3-D-Druck.

Siebtens: Wir brauchen einen offenen gesellschaftlichen Dialog und eine faktenbasierte Debatte über Food-Tech. Wichtig für die Akzeptanz wird sein, die etablierte Agrar- und Lebensmittelindustrie in den Innovationsprozess einzubeziehen. Es muss aber auch Innovationspartnerschaften mit Schwellen- und Entwicklungsländern geben, damit sie die neuen Technologien selbst mitgestalten und von ihnen profitieren können.

Ann-Kristin Achleitner

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