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© dpa

Rettung verboten?: Grenzen humanitärer Hilfe

Ex-Cap-Anamur-Chef Elias Bierdel hat 2004 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und musste in Italien vor Gericht. Nun wird das Urteil erwartet.

Das Urteil könnte bereits am kommenden Mittwoch fallen. Und sollten die Angeklagten schuldig gesprochen werden, dann wird das nicht nur die europäische Welt beschäftigen. Es geht um eine entscheidende Frage: Wo liegen die Grenzen der humanitären Hilfe? Das deutsche Schiff „Cap Anamur II“ hatte im Juni 2004 insgesamt 37 Flüchtlinge im Mittelmeer aus akuter Seenot gerettet. Dafür wird dem damaligen Chef der Hilfsorganisation, Elias Bierdel, und seinem Kapitän Stefan Schmidt von der italienischen Justiz der Prozess gemacht. Die Fernsehbilder des unter Jubelposen anlegenden Schiffes kosteten Bierdel seinen Posten als Vorsitzender der Hilfsorganisation. Vor dem Prozessende sagte Bierdel dem Tagesspiegel: „Die italienische Staatsanwaltschaft versucht uns nachzuweisen, bewusst im eigenen Interesse gehandelt zu haben. Dass die Rettung von Not leidenden Menschen in Frage gestellt wird, ist ein ganz schlimmes Zeichen für die Verfasstheit von Europa.“

Die „Cap Anamur II“ gehörte der gleichnamigen Hilfsorganisation. Es war das zweite Boot, das den Namen tragen durfte. Im Juni feiern die Entwicklungshelfer in Köln ihr 30-jähriges Bestehen. 1979 gründete der Journalist Rupert Neudeck zusammen mit dem Schriftsteller Heinrich Böll die Initiative „Ein Schiff für Vietnam“. Sie charterten ein Containerschiff, um „Boat People“ im chinesischen Meer vor dem Ertrinken zu retten. Die Menschen flüchteten seit dem Ende des Vietnamkrieges 1975 vor dem kommunistischen Regime über den Seeweg. Die Boote hielten den Naturgewalten auf hoher See nicht Stand. Hunderttausende ertranken. Mehr als zehntausend Menschen rettete Cap Anamur. Neudeck warf Bierdel kurz nach der Rettungsaktion im Mittelmeer Rufschädigung vor, der Vorwurf stand im Raum, Bierdel habe eine PR-Kampagne rund um die Rettung inszeniert. Bierdel selbst nannte Neudeck einen „senilen Zyniker“.

Von der afrikanischen Küste aus versuchen immer wieder Flüchtlinge das Mittelmeer in überfüllten Fischerbooten zu überqueren. Ihr Ziel ist Europa. Die Schmuggelsaison fordert jährlich Hunderte Menschenleben. Rund 1500 Dollar fordern die Schlepper von ihren Passagieren, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Der hohe Preis enthält jedoch keine Garantie, jemals an das europäische Festland zu gelangen. 2004 nahm die „Cap Anamur II“ die 37 schiffbrüchigen Flüchtlinge an Bord.

Der Rettungsaktion folgte eine Odyssee, die 22 Tage dauerte. An ihrem Ende gab der Lübecker Kapitän Stefan Schmidt am 11. Juli 2004 den Befehl, mit der „Cap Anamur II“ in den sizilianischen Hafen Empedocle einzulaufen. Zuvor blockierte die italienische Küstenwache eine Woche lang die Hafeneinfahrt. Dazu kreisten Schiffe der italienischen Marine um den umgebauten, 174 Container fassenden Frachter. Die angespannte Situation an Bord eskalierte und drohte, sich in Gewalt zu entladen. Einige Flüchtlinge traten in Hungerstreik, andere wollten über die Reling springen. Zuvor kreuzte die „Cap Anamur II“ bereits eine Woche lang in einem Zickzackkurs zwischen der tunesischen Mittelmeerinsel Djerba und Malta. Gerade diese Verzögerung irritiert Kritiker wie Staatsanwaltschaft. Warum wurden die Flüchtlinge nicht im maltesischen Hafen von Valetta oder im Hafen der italienischen Insel Lampedusa an Land gesetzt? Das ARD-Magazin „Panorama“ nannte die gesamte Rettungsaktion eine einzige PR-Kampagne. Kapitän Schmidt beruft sich auf die Hafenvorschriften. Die „Cap Anamur II“ sei mit ihren 90 Metern zu groß für den Hafen von Lampedusa gewesen. Malta sei in den Augen der Hilfsorganisation für die Schiffbrüchigen kein sicherer Hafen, sagt Alex Nagler, Verteidiger des ersten Offiziers Vladimir Daschkewitsch. Die Situation der Flüchtlinge auf Malta sei menschenunwürdig. Der Anwalt verweist dazu auf ein Memorandum des EU-Parlaments. Darin stellten die Abgeordneten 2006 fest, dass die Bedingungen in den maltesischen Auffanglagern gegen internationales Recht verstoßen.

Laut Nagler telefonierte Bierdel vom Schiff aus mit deutschen Regierungsvertretern in Berlin und Rom, um Unterstützung zu erbitten. Doch die Versuche, die Seeblockade über diplomatische Kanäle aufzulösen, blieben folgenlos. Vielmehr bekräftigten Politiker ihre Positionen gegenüber illegaler Migration. Am Rande des EU-Ministertreffens am 6. Juli 2004 in Sheffield nannten der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und sein italienischer Kollege Giuseppe Pisanu (Forza Italia) den Vorfall einen „schweren Präzedenzfall illegaler Migration in die EU“.

Das Einlaufen der „Cap Anamur II“ in den sizilianischen Hafen ist Bierdels erste öffentliche Bewährungsprobe. Die Fernsehbilder zeigen einen jubelnden Bierdel an Deck des Schiffes. Die geretteten Afrikaner tragen alle T-Shirts der Hilfsorganisation Cap Anamur. Sie wirken alles andere als glücklich. Am Pier wartet bereits die italienische Polizei mit einem Bus, der die Flüchtlinge in ein Auffanglager bringen wird. War die Landung im Hafen inszeniert? „Ich halte den Verdacht für unangemessen und wenig glaubhaft“, betont Burkhard Wilke vom Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen (DZI). Das Institut überwacht die Ausgaben der deutschen Hilfsorganisationen. Zwei Gründe seien ausschlaggebend: Zum einen spreche das lange Engagement für Flüchtlinge in Not für die Integrität der Hilfsorganisation. Zum anderen guckten die Medien ganz genau hin, ob sich die Organisationen nur ins mediale Rampenlicht stellten, um von dem Leiden anderer zu profitieren. „Öffentlicher Alarmismus zahlt sich weder kurzfristig noch langfristig aus.“

Den Verdacht, die Not der Menschen als Eigenwerbung auszunutzen, konnte die Hilfsorganisation nie richtig entkräften. Schließlich musste Bierdel aufgrund des öffentlichen Nachhalls gehen. Wilke vom DZI nimmt Bierdel und Schmidt vor den Vorwürfen in Schutz: „Das Flüchtlingsproblem ist eine der schwierigsten humanitären und ethischen Fragen in Europa. Deshalb ist es gesellschaftlich hoch anerkennenswert, wenn sich Personen und Organisationen für die Bedürftigen einsetzen. Damit begeben sie sich aber automatisch in ein politisches Minenfeld.“ ZDF-Redakteur Luten Leinhos findet es wichtig, dass Medienvertreter mit Bierdel an Bord des Frachters gingen: „Ohne die Medien hätte die deutsche Öffentlichkeit von dem Flüchtlingsproblem keine Notiz genommen.“ Leinhos war der einzige Fernsehjournalist auf dem Schiff. Fünf Tage begleitete er die Flüchtlinge und die Crew. Seine Bilanz: „Die tragische Figur war am Ende Elias Bierdel.“

Juristisch ist der Fall aber schwieriger als er scheint. Grundsätzlich muss sich ein Schiff an die Gesetze des Ortes halten, an dem es sich aufhält. „Das Aufgreifen von Schiffbrüchigen auf hoher See ist nicht nur keine Straftat, sondern sie ist eine Verpflichtung, also eine Hilfe die man als Seemann leisten muss“, sagt Rüdiger Wolfrum, Richter am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg. Das sei internationales Recht. Allerdings gelten beim Eintreten in italienische Hoheitsgewässer die Einreisebestimmungen Italiens. Nachdem die italienische Küstenwache die Einfahrt in den Hafen von Agrigent verboten hatte, hätte die unter deutscher Flagge fahrende „Cap Anamur II“ deshalb einen deutschen Hafen ansteuern müssen. Diesem Argument widersprechen die Verteidiger der Angeklagten. In der Handelsschifffahrt ist die Route eines Frachters an den geladenen Gütern ausgerichtet. Jede Stunde koste viel Geld. Die „Cap Anamur II“ sollte eine Krankenhausausrüstung nach Jordanien bringen. „Es wäre Wahnsinn gewesen, wegen den 37 Flüchtlingen eben mal kurz nach Deutschland zurückzukehren und dann wieder in See zu stechen“, sagt Rechtsanwalt Nagler.

Die Staatsanwaltschaft fordert wegen „bandenmäßigen Menschenschmuggels“ vier Jahre Haft und jeweils 400 000 Euro Geldstrafe. Kapitän Schmidt geht das Plädoyer der Staatsanwälte an die Nieren: „In Deutschland wird man eingesperrt, wenn man Menschen nicht rettet.“ Das Prozessende wird einen Maßstab für die Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer setzen. Die „Cap Anamur II“ nimmt jedoch keine Flüchtlinge mehr auf. Heute schippert der Frachter unter norwegischer Flagge als Containerschiff „Baltic Bettina“ auf der Ostsee umher.

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