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Weiter, immer weiter. Der britische Regierungschef sieht keinen Grund zum Rücktritt.

© IMAGO/VXPictures.com

Regierungskrise in London: Wer wird denn gleich zurücktreten?

Der britische Premier Boris Johnson will weitermachen. Der Unmut bei seinen Torys wird aber immer größer.

Zu Beginn der allwöchentlichen Fragestunde wird der britische Premierminister stets nach seinen Terminen gefragt. Kenner der Gepflogenheiten im Unterhaus können die normale Antwort mitbeten: „Heute morgen hatte ich Treffen mit Ministerkollegen und anderen, und später werde ich weitere solcher Treffen haben.“

Boris Johnson und seine konservative Regierung stecken nach dem Rücktritt zweier hochkarätiger Minister am Dienstagabend wieder einmal tief im Schlamassel. Der Begräbnisstimmung versucht der 58-Jährige an diesem Mittwochmittag mit einer lustigen Bemerkung beizukommen: „Ich erwarte“, sagt der Regierungschef auf Abruf, „heute auch weitere solcher Treffen zu haben“.

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Seiner hinter ihm sitzenden Fraktion ist erkennbar nicht nach Scherzen zumute. Mit steinerner Miene verfolgen die konservativen Hinterbänkler, wie Oppositionsführer Keir Starmer zunächst sein Gegenüber für dessen Halbwahrheiten und ganze Lügen auseinandernimmt und anschließend unter dem Gejohle seiner Labour-Fraktion auf dem Kabinett herumtrampelt. Der „Brigade von Leichtgewichten“ fehle der Mumm, den Chef zur Demission zu zwingen; die Torys seien eine „korrumpierte Partei, die das Unvertretbare verteidigt“.

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Glatte Lügen

Mit sehr viel vornehmeren Worten hatten tags zuvor zwei Kabinettsschwergewichte ihren Abschied begründet. Die Briten, schrieb Finanzminister Rishi Sunak in seiner verhüllten Kritik an Johnson, erwarteten zu Recht „korrektes, kompetentes und ernsthaftes Regierungshandeln“. Weil er diese Werte hochhalten wolle, müsse er zurücktreten. Gesundheitsminister Sajid Javid wurde noch deutlicher. Die Konservativen hätten stets kompetent und im nationalen Interesse regiert. „Leider billigt uns die Öffentlichkeit mittlerweile weder das eine noch das andere zu.“ Das liege am Ton und den Werten des Parteichefs. „Dies hat Auswirkungen auf Ihre Kollegen, Ihre Partei und letztlich das Land.“

Nicht nur Javid und Sunak scheinen zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die dauernden Unredlichkeiten und glatten Lügen aus der Downing Street Nummer Zehn dem Land und der Partei schaden. Am Dienstag und Mittwoch reichte auch eine Reihe jüngerer und nachgeordneter Regierungsmitglieder ihre Rücktritte ein. Abends wollte das einflussreiche Hinterbänkler-Komitee 1922 seinen Vorstand neu bestimmen, eine Mehrheit von Johnson-Kritikern galt als gesichert. Diese könnten die Fraktionsstatuten ändern und eine zweite Vertrauensabstimmung durchsetzen, die eigentlich bis nächsten Juni ausgeschlossen ist.

Vor einem neuen Versuch

Beim ersten Anlauf vor Monatsfrist hatte Johnson noch knapp mit 59 zu 41 Prozent gesiegt und anschließend die Parole „business as usual“ ausgegeben. Vor zwei Wochen mussten die Torys bei zwei Nachwahlen verheerende Niederlagen einstecken, die darauf hindeuteten, dass sie das Vertrauen sowohl von Stammwählern als auch von erst kürzlich wegen des EU-Austritts hinzugestoßenen Anhängern verloren haben. Partei-Chairman Oliver Dowden schmiss deshalb hin, was aber bei seinen Kabinettskolleginnen keine Folgen zeitigte.

Die jüngste Affäre dreht sich um den stellvertretenden Fraktionsgeschäftsführer Christopher Pincher. Dieser hatte völlig betrunken im konservativen Carlton Club junge Männer belästigt – kein Einzelfall, wie sich herausstellte. Wie aber konnte Johnson ausgerechnet den notorisch übergriffigen Politiker in ein Regierungsamt berufen, zu dem auch die Behandlung heikler Beschwerden gegen konservative Abgeordnete gehört?

Der Premierminister habe von Pinchers Ruf nichts gewusst, beteuerten dessen Sprecher übers Wochenende. Daraufhin meldete sich am Dienstag der frühere Amtschef des Außenministeriums zu Wort: Während Pinchers kurzer Tätigkeit als politischer Außen-Staatssekretär sei eine Beschwerde gegen ihn geprüft und für korrekt befunden worden, wovon auch Johnson Kenntnis hatte.

"Aber jetzt reicht es"

Der Ertappte ging mit dem Lügen-Vorwurf um wie zuvor mit Partygate, den Lobbying-Skandalen und seiner Missachtung des Ehrenkodex für Regierungsmitglieder: Er entschuldigte sich und verwies im Unterhaus viermal auf das „kolossale Mandat“, das ihm die Briten bei der Wahl vor zweieinhalb Jahren erteilt hätten. Bereits am Dienstagabend waren die verwaisten Kabinettsposten wieder besetzt; das wichtige Amt des Schatzkanzlers musste der geschwächte Chef dem ehrgeizigen Nadhim Zahawi zuerkennen, um dessen angedrohten Rücktritt abzuwenden. Der 55-Jährige war zuletzt Staatssekretär für Covid-Impfungen und anschließend Bildungsminister, aber vor allem verlässlicher Apologet Johnsons.

Im Unterhaus erhielt der frühere Finanz- und zuletzt Gesundheitsminister Javid die Gelegenheit, die Gründe für seinen Rücktritt darzulegen. Der 52-Jährige sprach von Anstand und Integrität als Grundlagen einer Demokratie. Er selbst habe immer wieder den Beteuerungen aus der Downing Street Glauben geschenkt. „Aber jetzt reicht es.“

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