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Ukrainische Soldaten erhalten über Chatbots Hinweise von Zivilisten über Aufenthaltsorte russischer Truppen.

© Rodrigo Abd/AP/dpa

Regierungsapp, Telegram und Co.: Ukrainische Zivilisten helfen der Armee mit Chatbots

Die Ukraine nutzt Crowdsourcing im Krieg, um Positionen russischer Truppen zu identifizieren. Das trug dazu bei, den Einmarsch nach Kiew aufzuhalten.

Am 25. Februar, dem zweiten Tag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, sahen Freunde seiner Eltern einen russischen Konvoi, der sich dem Flughafen Hostomel nördlich von Kiew näherte, berichtet Dmytro Lysovyy der „Financial Times“.

Dieser Konvoi sollte helfen, den Flughafen vollständig einzunehmen, nachdem am Vortag bereits Luftlandetruppen dort angekommen waren. Über den Flughafen wollten die russischen Truppen die Einnahme Kiews organisieren.

Die Freunde erzählten seinen Eltern und ihm alles, was sie gesehen hatten, so Lysovyy weiter. Da die Freunde kein Smartphone besaßen, öffnete er seines und tippte alles, was er gehört hatte samt Koordinaten in den Telegram-Chatbot „Stop Russian War“ ein. Rund 30 Minuten später, berichtet Lysovyy, leuchteten Flammen auf – in der Nähe der Koordinaten auf, die er durchgegeben hatte.

Lysovyy geht davon aus, dass viele andere Menschen mit Smartphones in der Nähe einen ähnlichen Bericht verfassten. Seine Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen – doch lässt sich die Existenz dieses Chatbots nicht bestreiten. Dieser war zu Beginn des Krieges von ukrainischen Sicherheitskräften eingerichtet worden, um über Crowdsourcing Positionen russischer Truppen zu identifizieren.

Lysovyy zeigte der „Financial Times“ sogar anhand der Koordinaten den Ort, den er durchgegeben hatte. Genau dort klaffte ein großes Einschlagsloch in der asphaltierten Straße. Experten kommen, auch aufgrund solcher Schilderungen, zu dem Schluss, dass der Ukraine-Krieg der erste in der militärischen Geschichte ist, in dem Smartphones ähnlich bedeutsam sein können wie Raketen und Artillerie.

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Und nicht nur besagter Telegram-Chatbot hilft den ukrainischen Streitkräften, russische Truppen aufzuspüren. Die ukrainische Regierung hat es der Bevölkerung auch einfacher gemacht, Positionen russischer Truppen über die „Diia App“ zu übermitteln. Die App ist eigentlich ein Regierungsportal für digitale Kopien von Personalausweis, Führerschein und während der Pandemie auch des Impfzertifikats.

Dmytro Lysovyy aus Hostomel berichtet, dass die russischen Truppen allerdings nach einigen Tagen dahinterkamen, warum die Ukrainer so genau wussten, wo sich die Stellungen des Gegners befanden. Zumindest schlussfolgert er das daraus, dass die russischen Soldaten, sobald sie einen Ort eingenommen hatten, von Haus zu Haus eilten, um nach Smartphones und anderen Kommunikationsmitteln zu suchen. Nicht nur in Hostomel.

Zoya Merchynskaya, die im Ort Motyzhyn westlich von Kiew wohnt, berichtet der „Financial Times“, dass russische Truppen ihren Mann töteten und in einen Kanalisationsschacht warfen, weil sie auf seinem Smartphone Bilder russischer Panzer gefunden hatten.

Und weil die Hinweise aus der Bevölkerung zu einem immer größer werdenden Problem wurden, zerstörten die russischen Truppen sogar das 4G-Mobilnetz rund um Kiew – obwohl sie es selbst brauchten, um zu kommunizieren. Zuvor hätte die Diia App eine „wirklich große Rolle“ gespielt, sagt Mstyslav Banik vom ukrainischen Digitalministerium, der die App entwickelt hat, der „Financial Times“.

Banik verglich die Menschen, die den Chatbot der App nutzten, mit den Partisanen während des Zweiten Weltkriegs, die versuchten, das Nazi-Regime zu hintergehen. Um sicherzugehen, dass Russland das System nicht infiltriert und Koordinaten ukrainischer Truppen im Chatbot hinterlegt, gibt es ein Team, das die Berichte filtert, bevor sie dem Militär weitergeleitet werden.

Die Ukraine profitiert offensichtlich von der Digitalisierungsstrategie, die weit vor Beginn des russischen Angriffskrieges begonnen hat. Es war eines der großen Projekte von Präsident Wolodymyr Selenskyj, moderne Kommunikationsmittel – von Twitter bis Telegram – großzumachen.

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Selenskyj verbreitetet seine täglichen Videobotschaften nun via Telegram. Via Twitter brachte der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorow Elon Musk dazu, sein Starlink-Satellitennetzwerk über der Ukraine freizuschalten.

Das Flaggschiff der Digitalisierungsstrategie sollte die Diia-App sein. Die Übersetzung des ukrainischen Wortes „Diia“ ins Deutsche ist „Aktion“. Selenskyj installierte, um die Koordination zu vereinfachen, extra ein Digitalministerium in seiner Regierung. Sein ursprüngliches Ziel mit Diia: Alle öffentlichen Dienste sollen bis 2024 digitalisiert sein.

„Seit dem 24. Februar haben wir die Prozesse angepasst und fokussieren uns auf Dienste, die alle Ukrainer jetzt brauchen, sowohl militärisch als auch zivil“, sagt Digitalminister Fedorow dem Medium „Emerging Europe“. „Die Digitalisierungsprozess in der Ukraine geht voran, trotz Raketenangriffen und dem totalen Krieg der Russen.“

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Die Ukrainer können seit Beginn des Krieges über die App auch Geld für die Armee spenden und rund um die Uhr auf Staatsfernsehen und Radiosender zugreifen. Über die Diia-App erhält außerdem jeder Angestellte in ukrainischen Kriegsgebieten eine zusätzliche Einmalzahlung von umgerechnet rund 150 Euro – der monatliche Mindestlohn in der Ukraine.

Außerdem gibt es einen vereinfachten digitalen Reisepass, den Flüchtlinge während des Krieges nutzen können, um die Grenzen nach Moldau und Polen zu überqueren. Der große Vorteil: Mehr als 13 Millionen Ukrainer, etwa ein Drittel der Bevölkerung, nutzen die App.

Nicht zu vergessen sind neben dem Crowdsourcing über Chatbots natürlich die Satellitenaufnahmen. Denn nicht nur Medien profitieren von den hochauflösenden Aufnahmen des US-amerikanischen Unternehmens Maxar Technologies, um die Berichte über Konvois beispielsweise zu illustrieren. Die Aufnahmen helfen den ukrainischen Streitkräften, die russischen Truppen ins Visier zu nehmen.

So wissen die ukrainischen Streitkräfte unter anderem durch Satellitenaufnahmen genau, dass und wo sich ein 13 Kilometer langer Konvoi auf dem Weg in den Donbass befindet. Kurz vor der Stadt Isjum zerstörten die Ukrainer am Wochenende eine kleinere Kolonne – ob das Crowdsourcing zur Ortung beitragen hat, ist nicht bekannt.

Wobei die russischen Streitkräfte die Aufnahmen und Smartphones ebenfalls nutzen, um die genauen Standorte der ukrainischen Truppen ausfindig zu machen, wie „New Scientist“ berichtet – allerdings können sie eben nicht auf das Crowdsourcing von Zivilisten zurückgreifen. So ist es für Russland nur schwer möglich, überraschende Angriffe zu fahren oder fliegen. Im Gegenteil, wie der Angriff auf den Konvoi zum Flughafen Hostomel vom 25. Februar gezeigt hat.

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