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Weniger Wahlkreise, weniger Abgeordnete - das ist die Logik bei Union und Teilen der Opposition.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Update

Wahlrechtsreform ein Jahr vor der Wahl: Kann der Bundestag jetzt noch Wahlkreise abschaffen?

Die große Koalition will im Sommer die Wahlrechtsreform voranbringen. Weniger Wahlkreise ist ein Ansatz. Aber wo? Wen trifft es? Und geht das überhaupt?

Die Koalition will die Sommerpause nutzen. Die Reform des Wahlrechts soll nämlich noch kommen – spät, aber immerhin. Zwar läuft das Aufstellungsverfahren für Kandidaten zur Bundestagswahl 2021 in den Wahlkreisen nach dem geltenden Wahlgesetz schon. Aber das soll für Union und SPD kein Hindernis sein. Wobei der letzte Vorschlag von CDU und CSU vorsieht, 19 Wahlkreise abzuschaffen, um so – im Zusammenhang mit anderen Schritten – den möglichen Aufwuchs des Bundestags zu dämpfen. Seit 2017 hat das Parlament bekanntlich 709 Abgeordnete, die Mindestsitzzahl – man kann auch von Normalgröße sprechen – liegt bei 598.

Rechtlich sei eine Wahlrechtsreform auch dann noch möglich, wenn Wahlkreise abgeschafft würden, hat Bundeswahlleiter Georg Thiel dieser Tage bekundet und damit die Meinung geteilt, die der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon im Februar vertreten hat.

Was dann unabhängig von der Zahl gelten würde. Daher wäre es auch noch möglich, in den kommenden Monaten (die Wahl wird wohl im September 20212 stattfinden) den Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen umzusetzen, der sogar 49 Wahlkreise weniger vorsieht. Dann wären noch deutlich mehr potenzielle Bewerber betroffen als im Unions-Vorschlag.

Das Aufstellungsverfahren läuft schon

Oder sogar schon gewählte Kandidaten. Denn seit dem 25. Juni ist es möglich, Vertreterversammlungen zur Bestimmung von Wahlkreiskandidaten abzuhalten. Die Delegierten dafür konnten schon seit dem 25. März bestimmt werden. Dass der Wahlkreisneuzuschnitt für die nächste Bundestagswahl erst seit 30. Juni Gesetz ist, weil das Verfahren sich hinzog, könnte relevant werden – die Veränderungen blieben allerdings marginal, und sie sind seit Ende Mai, als der Bundestag das Gesetz beschloss, bekannt. Thiel hatte im März vorgeschlagen, wegen der Verzögerung doch bitte mit den Aufstellungsverfahren abzuwarten. Aber das war nur eine Empfehlung.

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Im Auftrag der Union hat der Heidelberger Juraprofessor Bernd Grzeszick bestätigt, dass eine Reform trotz des laufenden Verfahrens möglich bleibe. Im Wahlgesetz stehe dem nichts entgegen, einschlägige Urteile von Gerichten gibt es nicht - vergleichbare Situationen, in denen Wahlkreise so kurz vor der Wahl verschwinden mussten, hat es bisher ja auch nicht gegeben. Thiel und Grzeszick meinen, die Kandidatenaufstellungen müssten bei einer nochmaligen Neueinteilung der Wahlkreise nur wiederholt werden.

Einteilung nur vorläufig?

Doch wie ist es bei gestrichenen Wahlkreisen, in denen sich nichts wiederholen lässt? Das Rechtsgutachten für die Union stellt fest, dass die Wahlkreiseinteilung vom 30. Juni nur vorläufig sei, weil ja parallel dazu eine Wahlrechtsdebatte stattgefunden habe. Eine Neueinteilung samt Wahlkreisreduzierung sei absehbar gewesen. Grzeszick weist aber vorsichtshalber darauf hin, dass angesichts des Fehlens von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu dieser speziellen Problematik die Möglichkeit bestehe, „dass im Streitfall Gerichte anders entscheiden werden“.

Das Recht ist ohnehin nur die eine Seite. Die andere ist die Praxis und damit die Frage, wie und in welchem Zeitraum eigentlich eine Reduzierung der Wahlkreiszahl erfolgen kann. Die Linken-Politikerin Halina Wawzyniak, bis 2017 als Bundestagsabgeordnete die Expertin ihrer Fraktion für das Wahlrecht und heute Fraktionsgeschäftsführerin der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, hält es nicht für möglich, eine Reform mit einer Verringerung der Wahlkreiszahl in seriöser Form vor Mitte November zu schaffen. Es sei denn, der Bundestag legt in der Sommerpause eine Sondersitzung ein, worauf jedoch bisher nichts hindeutet.

Es bestehen Zweifel

Wawzyniak meint, allenfalls bis Oktober sei ein neues Wahlgesetz samt neuen Wahlkreiszuschnitten durch das Parlament zu bringen. Allerdings dauern diese Verfahren zur Neuordnung der Wahlkreise üblicherweise etwas länger als nur wenige Wochen. Denn es nehmen auch die Länder normalerweise Stellung zu den Vorschlägen der Wahlkreiskommission, was die Sache verlängert. Die thüringische Regierung hat in dem Zusammenhang 2016 die Ansicht zu Protokoll gegeben, dass der Gesetzgeber mit einer Wahlkreisneueinteilung zu einem Zeitpunkt nach Beginn der Aufstellungsverfahren „in die laufende innerparteiliche demokratische Willensbildung eingreife“. Dem könnten Gerichte folgen.

Wawzyniak hält solche Eingriffe in laufende Verfahren generell für problematisch. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, hat ohnehin Zweifel, ob eine Reduzierung der Wahlkreiszahl praktisch noch möglich ist. Das SPD-Modell, seit März auf dem Tisch, sieht das nicht vor.

Computer-Modelle allein genügen nicht

Natürlich lässt sich mit Hilfe eines Computerprogramms schnell errechnen, wie eine mathematisch optimale Lösung bei der Abschaffung von 19 oder auch 50 Wahlkreisen aussehen könnte, die formal alle Bestimmungen des Wahlgesetzes oder andere Vorgaben einhält. Also möglichst auf die Einhaltung von Gemeinde- und Kreisgrenzen achtet und die gebotene Maximal- oder Minimalzahl der deutschen Einwohner je Wahlkreis einhält.

Aber die Feinabstimmung läuft anders, sie ist eine politische Frage, an der auch die Lokalparteien ein Interesse haben. Kollidiert ein Neuzuschnitt mit örtlichen Gegebenheiten und Gewohnheiten? Kommt zusammen, was zusammenpasst, oder riskiert man lokale Reibereien? In einem schnellen Verfahren wächst zudem die Gefahr, durch Zeitdruck Lösungen zu bekommen, die eine Partei eher bevorteilen, anderen einen Nachteil bringen – in den USA nennt man das „Gerrymandering“, das Zuschneiden von Wahlkreisen im Interesse von bestimmten Parteien.

In NRW kippen vier Wahlkreise, in Berlin ist es einer

Einigermaßen klar ist immerhin, welche Länder wie viele Wahlkreise abgeben müssten. Matthias Moehl vom Hamburger Wahlinformationsdienst „election.de“ hat das Unions-Modell mit den 19 Streichungen für den Tagesspiegel berechnet. Demnach fallen in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Hamburg und Thüringen keine Wahlkreise weg. In Nordrhein-Westfalen sind es dagegen vier Streichungen, in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen je zwei. Einen Wahlkreis weniger hätten dann Schleswig-Holstein, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Berlin, Sachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.

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Doch welche Wahlkreise konkret fielen weg? Da beginnt die Spekulation. Dass es schon eine Liste gibt, wurde im Bundestag nicht bestätigt. Doch lassen sich die Kandidaten eingrenzen. Wahlkreise, die von mehreren anderen umgeben sind, lassen sich leichter aufteilen, daher müssen eher Wahlkreise dran glauben, die in einem Wahlgebiet innen liegen. Ein zusätzlicher Faktor ist eine unterdurchschnittliche Einwohnerzahl.

Trifft es Charlottenburg-Wilmersdorf?

Beobachter glauben daher, dass in Sachsen der Wahlkreis Chemnitzer Umland der Streichkandidat ist – dort ist für die CDU der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz schon aufgestellt. In Berlin dürfte am ehesten der Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf aufgeteilt werden, wo der CDU-Politiker Klaus-Dieter Gröhler das Direktmandat hält. In Wahlkreis Schleswig-Holstein könnte es den Wahlkreis Plön-Ostholstein treffen. In Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt lässt sich weniger klar voraussagen, was sich ändern könnte.

In Rheinland-Pfalz gelten die innenliegenden Wahlkreise Kaiserslautern, Bad Kreuznach und Mosel/Rhein-Hunsrück als „Neuzuschnittsmasse“. Kaiserslauterns Oberbürgermeister Klaus Wendel hat schon gefordert, seine Stadt plus Umland müsse als eigener Wahlkreis bestehen bleiben. Im Saarland ist relativ sicher der Wahlkreis Sankt Wendel das Opfer, er lässt sich am ehesten auf die anderen drei Wahlkreise verteilen. Dort hat Nadine Schön das Direktmandat. In Bayern geht es wohl um Wahlkreise in Niederbayern und in Oberfranken, die dort meist deutlich unterdurchschnittliche Einwohnerzahlen haben.

In Baden-Württemberg zeichnet sich ebenfalls nicht konkret ab, wo die Schere angesetzt würde. Doch können die Wahlkreis Ravensburg und Schwarzwald-Baar als aufteilungsgefährdet gelten, so wie in Hessen der Wahlkreis Main-Kinzig-Wetterau, wo 2017 Peter Tauber vorn lag.

Dobrindts Gleichung

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt verteidigt den Vorstoß der Unions-Fraktion, doch hat er auf eine Folgewirkung der Streichung von Wahlkreisen aufmerksam gemacht. Zu den den beiden Wahlkreisen, die in Bayern wegfallen würden, kämen noch etwa zehn Wahlkreise, deren Zuschnitt sich ändern würde. Und diese Änderungen sind keineswegs marginal, sondern können tief in die bisherigen lokalen Gegebenheiten eingreifen. Unabhängig davon, ob Aufstellungsverfahren formal schon begonnen haben, können damit die informellen Planungen und Vorabfestlegungen - nicht zuletzt die Frage, wer direkt kandidiert - ins Rutschen kommen. Hochgerechnet auf die ganze Republik läuft Dobrindts Gleichung darauf hinaus, dass mehr als ein Drittel aller Wahlkreise, also mehr als hundert, "angefasst" werden müsste - durch Streichung oder mehr oder weniger umfangreiche Neuzuschnitte.

Nimmt man die aktuellen Umfragen, sind es fast immer Bewerber von CDU und CSU, die in den Wahlkreisen, die Streichkandidaten wären, wohl das Direktmandat gewinnen würden. Nach einer Streichung ist ihre Chance, über die Landeslisten einzuziehen, derzeit gering - denn die Listen ziehen nicht angesichts vieler Unions-Direktmandate. Daher könnte es attraktiv sein, Wahlkreise verschwinden zu lassen, in denen die aktuellen Direktmandatsinhaber nicht mehr antreten. In Nordrhein-Westfalen könnte der Wegfall von Wahlkreisen nicht zuletzt das Ruhrgebiet treffen, wo die SPD noch Direktmandate gewinnen kann.

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