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Schweigeaktion für die "Kinder von Lügde".

© Christophe Gateau/dpa

Reform bei Sexualdelikten an Kindern: Am Pranger wird es voll

Die Einstufung als Verbrechen wird nicht nur wenig nutzen im Kampf gegen Straftäter – sie lässt ihn sogar besonders wirkungslos erscheinen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Nach erschütternden Sexualtaten an Kindern will Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) die einschlägigen Delikte zu Missbrauch und Kinderpornografie im Strafgesetzbuch umbauen und, natürlich, verschärfen. Künftig soll nicht „Missbrauch“ von Kindern strafbar sein, sondern „sexualisierte Gewalt“. Strafrahmen sollen heraufgesetzt werden. Wichtigste Neuerung soll die Einstufung als Verbrechen sein. Auf alle Tatvarianten steht damit eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft.

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Wer will da widersprechen? Man würde sich verdächtig machen. Die öffentliche Abscheu eint. Der Ruf nach Härte, die Empörung, wenn Kinder Opfer sind – sie versöhnen, was politisch sonst leicht zu spalten ist.

Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Kriminalitätspolitik in diesem Sektor immer irrationaler wird. Sie wird zur Ersatzhandlung. Ein Symbol dafür ist Lambrecht selbst, die ihren eigenen Plan vor ein paar Wochen noch mit guten Gründen abgelehnt hat. Er eint alle, aber er hilft nicht. Er ist ein Placebo. Womöglich sogar ein Gift.

Die Einstufung als Verbrechen bedeutet, dass leichte Taten – die es auch in diesem Deliktsfeld gibt, etwa der Klick auf ein Nacktbild – von den Staatsanwaltschaften nicht mehr ohne weiteres eingestellt werden können.

Es fehlt künftig zudem die Möglichkeit, ein Verfahren per Strafbefehl geräuschlos schriftlich zu erledigen. Es wird regelmäßig zur Anklage und damit zu einer öffentlichen Hauptverhandlung kommen. Ein ganz besonderer Pranger, denn jeder, der als „Kinderschänder“ an ihm steht, ist sozial vernichtet.

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Mit der gerichtlichen Präsenz werden weit mehr Fälle als bisher wahrnehmbar, was dank der Nachrichten und Schlagzeilen wiederum den Eindruck verfestigt, dass es immer schlimmer wird mit Kinderpornografie und Misshandlung.

Der paradoxe Effekt: Die Verschärfung am unteren Rand führt dazu, dass die Gesellschaft subjektiv eine weitere Zunahme solcher Delikte erleben wird. In der Politik wird man dann erneut fordern, härter zu strafen. Denn bisher scheint alles Bemühen vergeblich.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD).
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD).

© imago images/photothek/Florian Gaertner

Richtig ist, dass damit zwar der Verfolgungsdruck steigt. Aber pädokriminelle Überzeugungstäter, deren Untaten die Öffentlichkeit am meisten erschrecken, wird das kaum einschüchtern. Und ob es den Pornogucker beeindruckt, der sich bei der Suche nach immer härteren Bildern in den Untiefen des Internet verirrt?

Mit ihm hat die Polizei häufig zu tun. Ein falscher Klick – und schon wird aus dem alleinstehenden Bundesbeamten ein Verbrecher, der seinen Job verliert. Also Schluss mit Porno im Netz? Ein frommer Wunsch. Vielleicht bringt die Angst manchen aufgeschreckten User dazu, künftig den Internetverlauf zu löschen. Das könnte es dann gewesen sein.

Hohe Strafen erleichtern auch nicht unbedingt die Polizeiarbeit. Zum Beispiel wenn es darum geht, Zeugen zum Reden zu bewegen. Wer künftig jemanden dieser Delikte beschuldigt, beschuldigt ihn eines Verbrechens. Mit den benannten Folgen. Eine Tochter, die gegen ihren Vater aussagen will, schweigt dann womöglich lieber.

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Neue Delikte im Strafgesetzbuch sind für die Strafverfolger zudem so etwas wie neue Software für einen Computer. Das beste Programm taugt nur etwas, wenn es läuft. Gerade am Anfang ist das meist schwierig. Es gibt Brüche, Verwirrung, unnötige Pausen. Abstürzen wird das System nicht, aber Justiz und Polizei werden sich neu orientieren müssen. Arbeit, von der keiner weiß, ob und wie sie messbaren Erfolg bringen kann.

Dabei war das Recht nicht schlecht. Für harte Fälle war es hart, für leichtere Fälle maßvoll. Lücken hat niemand mehr finden können. Beispiel Kinderporno: Straflos ist nur noch, sich eine sexuelle Handlung im eigenen Kopf vorzustellen. Wer zum Bleistift greift, versucht sich bereits an der Herstellung. Im Recht der Untersuchungshaft begibt sich Lambrecht auf einen weiteren Grenzgang: Bei schweren Gewalttaten soll künftig weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vorliegen, um einen Verdächtigen festzusetzen – das geht sonst nur bei mutmaßlichen Mördern oder Terroristen.

U-Haft ist Freiheitsentzug ohne rechtskräftiges Urteil. Es wird oft vergessen, um welchen Eingriff es sich hier handelt. Lambrechts Reform kann trotz allem mit einer breiten Mehrheit rechnen. Und da ist er auch, der einzige Grund, der sie rechtfertigt.

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