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Inge Auerbacher während ihrer Rede im Bundestag am Donnerstag

© Frederic Kern/imago

Rede zum Holocaust-Gedenktag: „Wir sind alle als Brüder und Schwestern geboren“

Inge Auerbacher war sieben, als sie deportiert wurde. Im Bundestag erinnerte das jüdische Mädchen von damals an die Leiden der Kinder unter der Shoah.

Ihr korallenroter Schal leuchtet zwischen all den schwarz gekleideten Abgeordneten des deutschen Bundestags. Inge Auerbacher geht in kleinen, mühsamen Schritten zu ihrem Platz, Bundespräsident Steinmeier und der Präsident der israelischen Knesset Mickey Levy stützen sie.

Seit 1996 gedenkt der Bundestag an jedem 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee 1945, des Holocausts. Heute hält Inge Auerbacher die Rede, wie viele vor ihr eine Überlebende der Judenvernichtung.

80 Jahre zurück, August 1942. Die siebenjährige Inge und ihre Eltern sind mit mehr als tausend Menschen in der Turnhalle der Stuttgarter Schillerschule eingepfercht, binnen kurzem werden sie nach Theresienstadt deportiert werden.

Sie erinnert sich: "Unser Gepäck wurde durchsucht. Einer der Aufseher fand Gefallen an einer Holzbrosche und nahm sie mir ab." Und fauchte das weinende kleine Mädchen auf schwäbisch an: "Du brauchsch nix da, wo du hingähsch. Er riss meine Puppe Marlene aus meinem Arm und untersuchte sie, ob in ihr etwas versteckt sei. Ich weinte, bis ich sie wieder hatte."

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Bei der Ankunft in Theresienstadt, vor brüllenden Aufsehern mit Peitschen, gehen die Eltern neben rechts und links neben Inge, um ihr einziges Kind vor den Hieben zu beschützen.

Nur wenige der 15.000 Kinder im Ghetto überlebten

Es sind die Erinnerungen eines Kindes, die Inge Auerbacher, heute 87 Jahre alt, bewahrt hat, und womöglich haben sie deshalb eine Intensität, die den Horror besonders nahe bringt.

Eine Armada von Ungeziefer, Ratten, Flöhe, Wanzen, Läuse,, der Hunger - "sogar Mäuse verhungerten dort", die ständige Angst, die getrennten Familien, die Epidemien, die die geschwächten Menschen schon hier sterben ließen - in jenem vorgeblichen "Musterghetto" der Nazis, das sie dem Internationalen Roten Kreuz 1944 vorführten, "in einer verlogenen Show", sagt Auerbacher.

In Wirklichkeit war Theresienstadt als Durchgangsstation zur Vernichtung eingerichtet, ständig gingen Deportationen von dort nach Auschwitz. "Wir waren 15.000 Kinder dort. Wenige überlebten, wie durch ein Wunder auch ich", sagt sie, die Jüngste des Transports der 11.000 jüdischen Deutschen, der damals aus Stuttgart nach Theresienstadt fuhr.

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Acht Jahrzehnte - davon ist in dieser Gedenkstunde im Bundestag oft die Rede, auch Mickey Levy erwähnt in seinen Schlussworten den großen Abstand zum Grauen und die Gefahr, dass das Erinnern blass wird.

Doch an diesem Morgen wird etwas anderes greifbar: Dass inzwischen nur noch die verschleppten jüdischen Kinder von damals, inzwischen selbst hochbetagt, reden müssen, weil die Elterngeneration nicht mehr lebt, gibt den Gedenkreden eine neue Tiefe. Und Nähe - die auch Auerbachers badischer Akzent verbürgt, der 75 Jahre in den USA überlebt hat. Das offene E etwa, als sie den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble begrüßt. Sie stammt aus dem kleinen Ort Kippenheim, nicht weit von Lahr am Fuß des Schwarzwalds.

Zu Inge Auerbachers Leidensweg gehört aber auch der Beginn ihres zweiten Lebens in New York, wohin sie mit ihren Eltern 1946 auswandern kann: Als Folge der vier Jahre in Theresienstadt erkrankt die 11-jährige an Tuberkulose, jahrelange schmerzhafte Behandlungen folgen, wieder überlebt sie, weil es inzwischen Mittel für sie gibt.

Die Freundin wurde als Neunjährige ermordet

Erst als Fünfzehnjährige kann darf sie wieder zur Schule gehen. Sie schafft die Highschool ein Jahr früher als vorgesehen, sie studiert Chemie - wieder unterbrochen durch einen Tbc-Rückfall - und arbeitet 38 Jahre lang als in Forschung und Klinik.

Ihre Bilanz: Vier Jahre Stigmatisierung als jüdisches Kind mit dem gelben Stern, dann die Jahre in Theresienstadt, vier Jahre Krankheit und acht Jahre, die sie keine Schule besuchen konnte. Wegen ihrer schweren Krankheit scheitert auch eine Heirat: "Ich durfte nie ein Brautkleid tragen, wurde nie Mama und Oma." Dennoch: "Aber ich bin glücklich. Und die Kinder der Welt sind meine!"

Auerbacher ist eine Frau, die man wohl als tough bezeichnen muss. Ihre Stimme zittert nur an dieser Stelle und wenige Male zuvor, etwa wenn sie von der gleichaltrigen Berliner Freundin Ruth erzählt, mit der sie sich in Theresienstadt anfreundete.

Die Mädchen versprachen sich, einander zu besuchen, sobald alles vorbei sei. Ruth wollte nach in den Südwesten kommen, Inge nach Berlin: Doch die Freundin wurde mit ihren Eltern in Auschwitz ermordet. Sie wurde nicht einmal zehn Jahre alt. "Ruth, ich bin heute da, um dich zu besuchen!"

Es ist Mickey Levy, der isrealische Parlamentspräsident, der seine Rede schließlich unter Tränen beendet. Als er das jüdische Totengebet rezitiert, versagt ihm die Stimme.

Er hatte zuvor an die Bedeutung des Reichstagsgebäudes, heute Sitz des Bundestags, erinnert, in dem er spricht: „Dies ist der Ort, wo die Menschheit die Grenzen des Bösen gedehnt hat, ein Ort, wo Werteverlust einen demokratischen Rahmen in eine rassistische und diskriminierende Tyrannei verwandelt hat“, sagte Levy. Die führe "die Zerbrechlichkeit der Demokratie" auch heute vor Augen.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte in ihren Eröffnungsworten auch einen Hinweis auf die aktuelle Zusammensetzung des Bundestags platziert, als sie sagte: "Wer Menschen bei uns ablehnt, weil sie nicht schon immer hier waren, der sollte das Wort Freiheit nicht im Munde führen."

Antisemitismus "ein Problem der ganzen Gesellschaft"

Das Erbe des mörderischen deutschen Rassenwahns habe "unsere Verfassung geprägt", aber Gedenken mache nicht immun,. Es habe weder die Morde von Hanau, noch Halle noch die rassistische NSU-Mordserie verhindert. Auch Antisemitismus gedeihe nach wie vor "nicht nur am rechten Rand, unter den ewig Unbelehrbaren . Er ist ein Problem der ganzen Gesellschaft, er ist mitten unter uns."

Trotz Corona - es gibt an diesem Vormittag viele innige Umarmungen - die des Bundespräsidenten für die Festrednerin, die lange zwischen Levy und der Frau, die er als "Tochter meines Volkes" begrüßt hat. An alle geht, was Inge Auerbacher ihren Herzenswunsch nennt: "Wir sind alle als Brüder und Schwestern geboren. Sei Hüter deiner Schwestern und Brüder." Alle sollten einem "gemeinsamen Morgen" entgegensehen, ein "Traum, der nie nie nie verloren gehen" dürfe.

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