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Angela Merkel am Dienstag bei ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.

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Rede vor dem EU-Parlament: Merkel in Straßburg entschlossen und ohne Pathos

Toleranz sei die Seele Europas, sagte die Kanzlerin. Sie liefert ein Plädoyer für die europäische Einheit. Ein Kommentar.

Nein, Pathos ist nicht ihr Ding. Wer geglaubt hatte, Angela Merkel würde ihren Auftritt vor dem Europäischen Parlament in ihrer letzten Kanzlerschaft nun nutzen, um ein politisches Vermächtnis zu formulieren, wurde enttäuscht. Es war keine Vision, die sie verkündete. Kein Aufbruchssignal rüttelte das größte demokratische Parlament der Welt auf, fast die Hälfte seiner Mitglieder war erst gar nicht erschienen. Wollten die, die nicht gekommen waren, so dokumentieren, dass sich für sie die Ära der Führungsfigur Merkel erkennbar dem Ende zuneigte?

Das wäre ein Fehler. Wie groß dieser Fehler ist, dokumentierte etwas überraschend in der abschließenden Aussprache ausgerechnet der polnische PiS-Abgeordnete Ryszard Antoni Legutko. Der kluge Mann stellte fest, dass Merkels Rede genauso gut auch ein europäischer Sozialdemokrat vorgetragen haben könnte – die Positionen zwischen den großen europäischen parlamentarischen Kräften seien irgendwie verwechselbar.

Die Kanzlerin zitiert wörtlich aus dem Koalitionsvertrag

Legutko hatte zwar recht. Doch er irrte sich auch. Was Angela Merkel vortrug, war tatsächlich – nimmt man einmal das Votum für eine europäische Armee aus – ziemlich exakt das, was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD steht. In dem kommen die Begriffe „Europa“ und „europäisch“ mehr als hundert Mal vor. Teilweise zitierte die Bundeskanzlerin sogar wörtlich aus ihm.

Ryszard Antoni Legutko irrte aber zugleich, weil es über die Zukunft und die Chancen der Europäischen Union inzwischen tatsächlich eine alle demokratischen Parteien übergreifende Einigkeit gibt. Diese Einigkeit mag teilweise noch eher theoretisch sein. Aber manchmal ist die Praxis nacheilend, weil die normative Kraft der Zielsetzung Zeit braucht, sich durchzusetzen.

Alle haben Verantwortung für die Gemeinschaft

Solidarität sei ein universeller Wert, gerade in schwierigen Zeiten, sagte Merkel. Jede individuelle Entscheidung eines Landes wirke sich im Positiven wie im Negativen sofort auf die Nachbarstaaten aus. Wenn einer leichtfertig mit der Wirtschaft umgeht, mit der Unabhängigkeit der Justiz, mit der Pressefreiheit, strahlt das ab. Zwischen der Solidarität mit Afrika und dem Umgang mit dem Thema Migration gibt es einen Zusammenhang.

Toleranz sei die Seele Europas, formulierte die deutsche Bundeskanzlerin. Die Verantwortung aller für die Gemeinschaft erfordere eben auch den Respekt für die Tatsache, dass zum Beispiel jedes Land aufgrund seiner Traditionen einen eigenen Umgang mit Flüchtlingen habe – wenngleich 2015 alle zu lange gebraucht hätten, die Flüchtlingsfrage als gemeinsam zu lösende Aufgabe zu begreifen. Da schloss sie Deutschland und ihre eigene Regierung zwar spät, aber eben doch in die Kritik mit ein – keiner in Europa habe gesehen, dass die Not in den nahöstlichen Flüchtlingslagern so groß war, dass die Menschen sich, von Hunger getrieben, auf den Weg nach Europa machten.

In ihrer Rede sucht sie die Brücke zu Macron

Ohne wirtschaftlichen Erfolg und ohne gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat Europa keine Stimme. So etwas gefiel den Rechtsextremen im Haus nicht, sie buhten penetrant. Am Ende suchte Angela Merkel die Brücke nach Frankreich, zu Emmanuel Macron. Hier klang das Gedenken in Compiègne und Paris entschlossen nach, und die Botschaft daraus: Nationalismus und Egoismus dürfen nie wieder eine Chance haben nach zwei Weltkriegen. Man spürte: Merkels Kanzlerschaft ist noch nicht vorbei.

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