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Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki.

© Ian Forsyth/REUTERS

Rechtsstreit zwischen der EU und Polen: „Die EU-Institutionen haben sich in eine Falle locken lassen“

Der Historiker und Europakenner Luuk van Middelaar über den Streit zwischen Brüssel und Warschau, Merkels Abschied und die Fliehkräfte unter den 27 EU-Staaten.

Der Historiker und politische Philosoph Luuk van Middelaar beschäftigt sich nicht nur theoretisch mit der EU, sondern hat auch praktische Erfahrungen im Innersten der EU-Institutionen in Brüssel gesammelt. Zwischen 2009 und 2014 arbeitete er im Kabinett des damaligen EU-Ratschefs Herman van Rompuy. Heute wirkt der 48-jährige Niederländer an den Universitäten Leiden und Louvain-la-Neuve als Professor für EU-Recht und European Studies. Zuletzt erschien von ihm bei Suhrkamp im vergangenen April „Das europäische Pandämonium. Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt“.

Herr van Middelaar, Angela Merkel verabschiedet sich nicht nur als Bundeskanzlerin, sondern sie verlässt auch die europäische Bühne. Merkel hat in der Vergangenheit eine moderierende Rolle eingenommen. Ist demnächst mit größeren Spannungen zwischen Ost und West in der EU zu rechnen?
Es stimmt, dass Merkel schon früh auf der europäischen Ebene eine große Autorität erlangt hat. Sie hat sich bereits 2007 während der damaligen deutschen EU-Ratspräsidentschaft und dann drei Jahre später zu Beginn der Euro-Krise Respekt verschafft. Anschließend hat sie es geschafft, nach dem Brexit-Votum in Großbritannien und der Wahl Trumps zum US-Präsidenten die Einheit der EU zu wahren. Einige der Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa haben indes ihren Ursprung in der Flüchtlingskrise von 2015.

Nach den Worten des Historikers van Middelaar hatte Merkel in der Flüchtlingskrise eine EU-Mehrheit gegen sich.
Nach den Worten des Historikers van Middelaar hatte Merkel in der Flüchtlingskrise eine EU-Mehrheit gegen sich.

© Annegret Hilse/REUTERS

Und was war Merkels Anteil daran?
Damals haben Deutschland und die Kanzlerin zwar einen stark von Moral geprägten Standpunkt vertreten. Aber diese Haltung wurde von den meisten Staats- und Regierungschefs in der EU – auch über die Vertreter Osteuropas hinaus - nicht geteilt.

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Aber grundsätzlich wird es nach dem Abschied von Merkel für alle anderen schwieriger sein, mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán und dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki im Gespräch zu bleiben. Denn Orbán und Morawiecki gingen davon aus, dass Merkel sie wegen ihrer Sozialisation in der DDR besser verstehe als andere.

Die dienstältesten Politiker unter den Staats- und Regierungschefs sind demnächst der Niederländer Mark Rutte und der Ungar Viktor Orbán. Wird es zwischen den beiden vermehrt zum Streit kommen?
Nein, das Dienstalter spielt da nicht die entscheidende Rolle. Einige gehen davon aus, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron jetzt eine Führungsrolle in der EU übernehmen wird. Da bin ich aber angesichts der Präsidentschaftswahlen, die Macron im April zu bestehen hat, skeptisch.

Außerdem ist es in der EU nicht vergessen, dass er sich während der Europawahl 2019 als eine Art Anti-Orbán positioniert hat. Nach dem Abgang von Merkel wird es eher so sein, dass mehrere Staats- und Regierungschefs die Lücke füllen werden. Dazu könnten Macron, Rutte, der italienische Regierungschef Mario Draghi, EU-Ratschef Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gehören. Und nicht zuletzt der neue Bundeskanzler.

Seit Jahren schwelt der Rechtsstaatsstreit zwischen der EU und Polen. Mit dem jüngsten Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist der Streit erneut eskaliert. Wie bewerten Sie das?
Man muss zwischen dem unterscheiden, was in Polen passiert und dem, was zwischen Polen und der EU abläuft. Entscheidend ist, was in Polen selbst passiert. Ein ehemaliger Richter des polnischen Verfassungsgerichts hat angesichts der Justizreform in Polen, die von der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ seit 2015 ins Werk gesetzt wurde, von einem „Krieg gegen die Verfassung“ gesprochen: Die Gewaltenteilung wird aufgehoben, die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt, akademische Freiheiten beschnitten.

Eine ähnliche Entwicklung sehen wir in Ungarn. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird man beide Länder nicht mehr ernsthaft als Demokratien bezeichnen können. Diese bedenkliche Entwicklung sollte vor allem im Fokus der EU stehen. Statt dessen haben sich die EU-Institutionen von Morawiecki in eine Falle locken lassen. Morawiecki versucht eine Grundsatzdiskussion darüber anzuzetteln, wo die Kompetenzen der EU anfangen und wo sie aufhören.

Man sollte also mehr konkret über eine mögliche Abschaffung der umstrittenen polnischen Disziplinarkammer am Obersten Gericht reden und weniger über den Grundsatz der nationalstaatlichen Souveränität?
Genau. Die Debatte über den Vorrang des Europarechts ist nämlich äußerst kompliziert. Es gibt da keine ganz einfachen Antworten – auch wenn völlig klar ist, dass das polnische Verfassungsgericht in seiner Ablehnung von Teilen der EU-Verträge viel weiter gegangen ist als seinerzeit das Bundesverfassungsgericht. Noch einmal: Es geht in Polen in erster Linie um einen Kampf zwischen der PiS-Regierung und der verfassungsgemäßen Demokratie, nicht um einen Kampf zwischen der EU und Polen.

Der Historiker Luuk van Middelaar glaubt, dass demnächst mehrere Politiker in der EU eine Führungsrolle übernehmen.
Der Historiker Luuk van Middelaar glaubt, dass demnächst mehrere Politiker in der EU eine Führungsrolle übernehmen.

© PR

Sollte sich die EU mit Kritik an Polen zurückhalten, damit sich Morawiecki in seiner Opferrolle nicht noch weiter bestärkt sieht?
Das ist schwer zu beurteilen. Ich stelle nur fest, dass der frühere EU-Ratschef und heutige polnische Oppositionsführer Donald Tusk in jedem Fall die Corona-Hilfen in Höhe von 36 Milliarden Euro für sein Land sicherstellen will. Er argumentiert, dass die polnische Bevölkerung nicht für die Verfehlungen der Regierung bestraft werden dürfe. 36 Milliarden Euro sind eine große Summe. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die EU-Kommission diese Summe an Polen ohne irgendwelche Auflagen überweist.

Sie selbst gehörten zwischen 2009 und 2014 dem Kabinett des damaligen EU-Ratschefs Herman van Rompuy an. Ist die Gefahr, dass die EU zerfällt, seit dieser Zeit gewachsen?
Nicht unbedingt. Was sich nur seit der Mitte des vergangenen Jahrzehnts geändert hat, ist die zunehmende Politisierung der EU. Die EU ist mehr als in der Vergangenheit ein Gegenstand der öffentlichen Debatte, die zum Teil leidenschaftlich geführt wird. Als ich in Brüssel gearbeitet habe, gab es während der Euro-Krise zwischen 2009 und 2012 ebenfalls viele Spannungen, hauptsächlich zwischen Nord- und Südeuropa.

Damals haben einige Staats- und Regierungschefs – vielleicht gelegentlich zu ihrer eigenen Überraschung – festgestellt, wie groß das gemeinschaftliche Interesse an einer Erhaltung des Euro war. Anschließend gab es bittere Diskussionen über den Brexit und die Migration. Das ist aber kein Wunder, weil beide Themen tiefe Spannungen innerhalb und zwischen den Gesellschaften offenlegen.

Andererseits muss man bei den zum Teil hitzigen Debatten am Tisch der Staats- und Regierungschefs auch eines im Auge behalten: Die Chefs wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen dem, was ihre Amtskollegen tatsächlich im Sitzungssaal sagen und dem, was in erster Linie für die Öffentlichkeit im Heimatland gedacht ist.

Sind Krisen notwendig, damit sich die EU weiterentwickelt?
Niemand wünscht sich, dass es ständig neue Krisen gibt. Aber als Historiker und politischer Philosoph stelle ich fest, dass auf jede Krise in der Vergangenheit eine Antwort der EU folgte. Als Realist sehe ich natürlich die Fliehkräfte, die die EU auseinanderzureißen drohen.

Aber manchmal wird auch übersehen, dass die EU sich in den vergangenen Jahren in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit verbessert hat. In meiner Zeit in Brüssel hat es über zwei Jahre gedauert, bis angesichts der Euro- und Griechenland-Krise eine stabile Lösung gefunden war. Im vergangenen Jahr vergingen gerade einmal vier Monate, bevor sich die EU in der Corona-Krise aus ihrer anfänglichen Lähmung löste und einen gemeinsamen Hilfsfonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro beschloss.

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