zum Hauptinhalt
Eine Statue der Justitia, Göttin der Gerechtigkeit. Oder schon Göttin des Volkszorns?

© David-Wolfgang Ebener/dpa

Rechtskraft von Strafurteilen: Wenn das Unrecht schreit, kapituliert die Vernunft

Die Koalition will, dass bei Mordfällen Freisprüche aufgehoben werden können. Das Vorhaben ist ein gedankenloser Bruch fundamentaler Prinzipien. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Auch die Bundesrepublik ist ein Land, in dem Mörder:innen frei herumlaufen. Einer von ihn dürfte die bei ihrem Tod 17 Jahre alte Frederike von Möhlmann auf dem Gewissen haben. Der Mann stand unter Verdacht, wurde aber freigesprochen. Heute, 40 Jahre nach der Tat, lebt er noch immer in Freiheit. Dank DNA-Spuren weiß man, dass er mutmaßlich der Täter war. Damals reichten die Indizien nicht aus.

Dass der erneut Verdächtige nicht mehr vor Gericht gekommen ist, liegt an der Strafprozessordnung. Die Wiederaufnahme eines Verfahrens nach rechtskräftigem Freispruch ist nur möglich, wenn dieser „vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat“ ablegt. Das tun die wenigsten.

Fälle wie diesen soll es nach dem Willen der Koalition nicht mehr geben. Sie plant, in dieser Woche zusammen mit weiteren Strafvorschriften eine Ergänzung zu verabschieden. Freigesprochene sollen wieder angeklagt werden können, wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden“ und es um den Verdacht unverjährbarer Schwerstverbrechen wie Mord oder Völkermord geht.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Der Vater von Frederike von Möhlmann wird froh sein, er hat lange für die Änderung gekämpft. Seine Trauer und seine Wut sind das wesentliche Motiv. In der Sprache des Gesetzentwurfs ist von „unerträglich“ die Rede. Was „unerträglich“ ist, muss abgestellt werden. Punkt.

Schwer erträglich ist die Gedankenlosigkeit, mit der dies geschieht. Die Rechtskraft eines Urteils – und damit auch eines Freispruchs – ist ein hoher Wert. Ein Rechtsstaat muss berechenbar bleiben. Mit dem neuen Gesetz wird der Freispruch nach einem Mordvorwurf zu einem Freispruch unter Vorbehalt. Freigesprochene müssen erwarten, jederzeit wieder vor Gericht zu kommen. Das könnte auch „unerträglich“ sein – dann nämlich, wenn sie unschuldig sind.

Doppelbestrafung ist verboten

Das Grundgesetz bestimmt deshalb, dass niemand mehrmals wegen ein- und derselben Tat bestraft werden darf. Das Verbot der Doppelbestrafung. Gibt es ein rechtskräftiges Urteil, sprechen Juristen vom „Strafklageverbrauch“. Auch mit einem Freispruch ist die Strafklage verbraucht.

An diesem Grundsatz schraubt die Koalition herum. Das Bundesverfassungsgericht wird möglicherweise sogar feststellen, sie habe ihn aufgegeben. Dann würde das Vorhaben für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Doch die Gesetzgeber:innen könnten sagen: Wir haben alles versucht, „schreiendes Unrecht“ zu beseitigen, wie es der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner formuliert.

Gefühl schlägt Vernunft. So geht es in der Kriminalpolitik seit Jahren. Der Weg dürfte vorgezeichnet sein: Warum sollte die Wiederaufnahme nur bei Mordverdacht möglich sein? Warum nicht bei Totschlag oder Vergewaltigung? Und ist Verjährung nicht auch nur eine Form von Täterschutz? Also weg damit. Die Jagd kann beginnen. Wenn das Unrecht schreit, hat der Rechtsstaat zu schweigen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false