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Die Gewerbefreiheit war in den Lockdown-Monaten massiv eingeschränkt. In der Corona-Krise gab es die größten Eingriffe in die Grundrechte in der Geschichte der Bundesrepublik.

© imago images/Rupert Oberhäuser

Rechtsexpertin über Einschränkungen in der Krise: „Im Herbst werden die Länder das Heft des Handelns in der Hand halten“

Die Berliner Rechtsprofessorin Anna-Bettina Kaiser bilanziert die Einschränkung von Grundrechten in der Pandemie – und warnt vor einem Gewöhnungseffekt.

Anna-Bettina Kaiser ist Professorin für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts an der Humboldt-Universität. Im vorigen Jahr erschien ihr Buch „Ausnahmeverfassungsrecht“.

In der Pandemie wurden Grundrechte massiv eingeschränkt. Es gab und gibt Kritik daran, aber auch Kritik an der Kritik. Um einmal mit einer schlichten Frage zu beginnen: Wozu sind Grundrechte eigentlich da?
Grundrechte sichern in erster Linie die Freiheitssphäre der Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Eingriffen. Anerkannt ist allerdings auch eine Schutzdimension der Grundrechte. Diese Grundrechtsfunktion wurde in der Pandemie im Hinblick auf das Grundrecht auf Gesundheit und Leben relevant.

Der Staat ist demnach verpflichtet, Gesundheit und Leben der Menschen in Deutschland zu schützen. Diese beiden Grundrechtsdimensionen – das grundrechtliche Abwehrrecht auf der einen Seite, die staatliche, aus den Grundrechten resultierende Schutzpflicht auf der anderen Seite – weisen leider typischerweise in verschiedene Richtungen, sie kollidieren.

Warum kommt es dazu?
Häufig kann der Staat Grundrechte nur schützen, indem er in Grundrechte eingreift. Ein Beispiel: Der Staat verbietet aufgrund der Pandemie Veranstaltungen ab einer bestimmten Personenzahl, greift also etwa in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ein, um das Leben insbesondere von vulnerablen Gruppen zu schützen. Da nimmt er seine grundrechtliche Schutzpflicht wahr. Juristinnen und Juristen sprechen von „Schutz durch Eingriff“. Es ist daher Aufgabe des Staates, zwischen beiden Seiten einen angemessenen Ausgleich herzustellen.

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Sind wir bei den Grundrechtseinschränkungen dann – salopp gefragt - glimpflich durch die Krise gekommen?
Nein, glimpflich sicher nicht. Im Gegenteil, es haben die vielleicht schwersten Eingriffe in die Grundrechte seit Bestehen der Bundesrepublik stattgefunden. Die Grundrechtseingriffe betrafen sehr viele gesellschaftliche Bereiche und fast alle Grundrechte: die Religionsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Freiheit der Lehre, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit, die Berufsfreiheit…

Manche Gruppen waren besonders hart betroffen und sind es teilweise immer noch, etwa die alten Menschen in Pflegeheimen, die „abgeriegelt“ wurden. Das sind alles andere als glimpfliche Eingriffe. Wichtig ist aber, dass auch sehr weitreichende Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig und daher verfassungsgemäß sein können. Das Beispiel der Alten- und Pflegeheime ist aber sicher ein Grenzfall.

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Geeignet, erforderlich, angemessen – auf diesen Dreiklang läuft das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hinaus, an das sich Parlamente, Exekutive und Gerichte bei Gesetzen, Verordnungen und Urteilen halten müssen. Ist das in der Pandemie durchgängig eingehalten worden?
Ganz überwiegend halte ich die getroffenen Maßnahmen für verhältnismäßig, ja. Es gab aber auch Fälle, in denen das nicht galt. Die massiven Einschnitte in die Versammlungsfreiheit während des ersten Lockdowns in fast allen Bundesländern – mit der Ausnahme von Bremen – bedeuteten eine faktische Aufhebung dieser Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Praxis jedoch zügig beendet.

Anna-Bettina Kaiser lehrt Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Anna-Bettina Kaiser lehrt Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

©  privat

Der Staat sei ungenügend vorbereitet gewesen, lautet häufig die Kritik. War denn das Grundgesetz darauf vorbereitet?
Ja. Mir ist keine einzige grundgesetzliche Vorschrift bekannt, die einer effektiven Pandemiebekämpfung im Wege gestanden hätte. Es hat sich also deutlich gezeigt, dass das Grundgesetz keine bloße „Schönwetterverfassung“ ist, wie von seinen Kritikern bisweilen behauptet wird. Vielmehr hat es sich auch in dieser Krise bewährt. Die Verfassung musste ja auch nicht geändert werden, um eine wirksame Reaktion auf die Pandemie erst zu ermöglichen.

 „Frühzeitige Maßnahmen, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind“ – so lautet die Lehre, die Winfried Kretschmann gerade erst aus der bisherigen Pandemiebekämpfung gezogen hat. Ist das noch verfassungskonform?
Wenn die Empfehlung so formuliert wird, ist sie sicher nicht verfassungskonform.

Warum?
Weil das Verhältnismäßigkeitsprinzip immer gilt, auch in Not- und Krisenzeiten. Unverhältnismäßige Maßnahmen dürfen niemals getroffen werden. Aber Herrn Kretschmann ging es wohl darum – sollte es noch einmal zur Notwendigkeit eines weiteren Lockdowns kommen –, nicht den Fehler des zweiten Lockdowns vom November 2020 zu wiederholen.

Damals haben die Länder zu spät reagiert mit der Folge, dass der zweite Lockdown sehr lange dauerte und es trotzdem zu sehr vielen Todesfällen kam. Ein früheres Eingreifen wäre damals aus juristischer Sicht aber ohne weiteres möglich gewesen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwingt die Politik nicht, zu warten, bis es zu spät ist, im Gegenteil. Daher bedarf es auch nicht eines von Kretschmann angeregten Pandemie-Notstands.
Regierungen lieben allerdings Notstände, weil sie dann Herrinnen des Verfahrens sind und damit punkten können…
Na, das ist mir zu einfach. Warum sollten jedenfalls liberale Regierungen Notstände lieben, die ja meist unberechenbar sind und ganz schnell zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung und zu einer Abwahl führen können? Eine falsche Entscheidung genügt – etwa der verspätete britische Lockdown ganz am Anfang der Pandemie –, und schon nimmt das irreversible Geschehen seinen Lauf und die Regierung hat die Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Nein, ich glaube nicht, dass liberale Regierungen solche Notstände lieben.

Zweifellos aber weniger liberale Regime.
Ja, diese haben den Gesundheitsnotstand tatsächlich genutzt, um die verfassungsrechtliche Ordnung weiter in ihrem Sinne umzubauen, wie Viktor Orbán in Ungarn. Oder aber um weiteres Chaos zu stiften, wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro.

Gerade die letzte Konstellation gerät in der kritischen Öffentlichkeit zu sehr aus dem Blick, dass nämlich in den USA und Brasilien die illiberalen Präsidenten während der Pandemie ganz bewusst auf notwendige Pandemiebekämpfungsmaßnahmen verzichtet und dadurch nicht nur großes Leid verursacht, sondern auch Vertrauen in die Politik und in Institutionen zerstört haben.

Wie gefährlich ist ein Ausnahmezustand wie die Coronakrise für die liberale Demokratie, wenn Einschränkungen sehr lange dauern?
Sicherlich besteht die Gefahr eines „Gewöhnungseffekts“. Freiheiten müssen gelebt werden. Je länger die Pandemie dauert und die Einschränkungen fortwirken, umso schwerer kann es werden, den Schalter wieder umzulegen. Ich nenne mal ein Beispiel aus meinem Umfeld: Wann kehren wir an den Universitäten zur Präsenzlehre zurück? An den Berliner Universitäten ist für das Wintersemester gerade mal eine Quote von etwa einem Drittel geplant.

Immerhin hatten wir in Deutschland im internationalen Vergleich keine zu restriktiven Maßnahmen. Insofern sind die Aussichten wohl ganz gut, dass Freiheitsräume schnell wieder ausgefüllt werden. Dazu wird auch beitragen, dass es von Anfang an einen sehr offenen Diskurs über die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen gegeben hat. Wir leben eben in einer Grundrechtsrepublik.
Der Bundesstaat wird von deutschen Juristen gern als Prinzip der Gewaltenteilung beschrieben. Wie sind Bund und Länder damit umgegangen?

Zunächst ist auffällig, dass eine Zentralisierung der Pandemiebekämpfung auf Bundesebene nicht erst durch die „Bundesnotbremse“ im April 2021, sondern gleich zu Beginn der Pandemie hätte erfolgen können. Diesen Weg ist man aber nicht gegangen, sondern hat den Ländern die Kompetenzen zur Pandemiebekämpfung sehr lange belassen, wofür ja auch einiges gesprochen hat.

Was genau?
Eben die vertikale Gewaltenteilung, vor allem aber die Idee des Föderalismus, dass die untere Ebene die angemesseneren, weil genauer zugeschnittenen Maßnahmen ergreifen kann. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, gewissermaßen als Kompensation, über die Ministerpräsidentenkonferenz eine Koordinierung der Maßnahmen der Länder angestrebt hat, halte ich für legitim, zumal die Absprachen ja nur informeller Natur waren. Die Länder waren rechtlich zu keiner Zeit gebunden. Dementsprechend schlugen sie auch immer wieder eigene Wege ein.

Merkel und die MPK – das waren ja sozusagen die „Stunden der Exekutiven“. Wie beurteilen Sie die Rolle der Parlamente, des Bundestages und der Landtage? Die wurden ja gerügt, weil sie zu passiv gewesen seien. Stimmt das?
Ja und nein. Zunächst ist positiv zu sehen, dass Bundestag und Landesparlamente auch in Pandemiezeiten zu jeder Zeit arbeitsfähig blieben und zahlreiche Gesetze auf den Weg brachten – einer politikwissenschaftlichen Studie zufolge sogar mehr als in Zeiten vor der Pandemie. Das Infektionsschutzgesetz wurde gleich im März 2020 geändert, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ wurde eingefügt. Auch ist es der Bundestag, der über diese Lage entscheidet.

Und was war weniger positiv?
Gleich bei der ersten Änderung des Infektionsschutzgesetzes im März 2020 wurden dem Bundesgesundheitsminister äußerst weitreichende Verordnungsbefugnisse eingeräumt, die die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen ausgetestet haben. Das wurde teilweise wieder zurückgenommen. Vor allem aber hat sich der Bundestag viel zu lange Zeit gelassen, eine tragfähige Ermächtigungsgrundlage für die Corona-Verordnungen der Länder zu erlassen. Das kam erst im November 2020 – veranlasst übrigens durch den Druck der Verwaltungsgerichte.

…die allerdings auch ihr Fett wegbekommen haben. Mal hieß es, sie schränkten die Politik zu sehr ein, mal wurde behauptet, sie seien zu nachsichtig. Haben die Gerichte angemessen reagiert auf die Einschränkungen?
Den Vorwurf zu großer Nachsichtigkeit halte ich aufs Ganze gesehen nicht für berechtigt. Gerichte sind nur so gut wie ihre Maßstäbe. Zentraler Maßstab war und ist der angesprochene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser setzt aber Wissen voraus. Nämlich eine Antwort auf die Frage, ob eine staatliche Maßnahme wirklich zur Bekämpfung der Pandemie taugt und ob es womöglich ein milderes, aber ebenso wirksames Mittel gibt.

Entscheidet sich die Exekutive in einer Situation unsicheren Wissens für ein bestimmtes Instrument und müssen die Gerichte im Anschluss daran entscheiden, ob es sich um eine verhältnismäßige Maßnahme handelt, haben sie ebenso wenig Wissen wie zuvor bereits die Exekutive. In einer solchen Situation können die Gerichte daher häufig nichts anderes tun als auf den Einschätzungsspielraum der Exekutive verweisen und Geeignetheit sowie Erforderlichkeit der Maßnahme bejahen.

Damit kann man es sich dann allerdings auch einfach machen…
Nun ja, es kommt da vielleicht noch auf einen weiteren Aspekt an. Jede Exekutive weiß, dass ihre Maßnahmen von Gerichten kontrolliert werden. Klar ist auch, dass jedes neue Wissen zu einer Revision der getroffenen Maßnahmen führen kann.

Stellt sich also über die Zeit heraus, dass eine bestimmte Maßnahme ungeeignet ist, muss sie sofort aufgehoben werden. Man denke da an die berüchtigte bayerische Regelung aus dem ersten Lockdown, die das Benutzen von Parkbänken verbot. Allein schon die Tatsache, dass eine Maßnahme von Gerichten als unverhältnismäßig aufgehoben werden könnte, ist daher für das Handeln von Parlamenten und Regierungen zentral.

Bis vor wenigen Tagen galt die „Bundesnotbremse“. Im Herbst, wenn spätestens wieder mit höheren Inzidenzen zu rechnen ist, gilt sie – Stand jetzt – nicht mehr. Ist das richtig? Oder sollte sie wieder aktiviert werden?
Die „Bundesnotbremse“ sollte als Reaktion auf eine konkrete politische Situation gesehen werden, nämlich das Auseinanderdriften der politischen Vorstellungen bei der Einschätzung der Gefährlichkeit und Bekämpfung der dritten Welle Anfang April. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Impfkampagne damals angelaufen, aber noch nicht so weit fortgeschritten war.

Diese konkrete Situation wird sich nicht wiederholen. So ist es eher unwahrscheinlich, dass sich auf Bundesebene kurz nach der Wahl ein dann womöglich noch umstrittenes Instrument durchsetzen lässt. Praktisch werden also im Herbst die Länder das Heft des Handelns in der Hand halten.

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