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Ein Demonstrant hält in Hanau am Sonntag, 23.2., ein Plakat hoch.

© EUTERS/Ralph Orlowski

Rassistischer Anschlag in Hanau: Warum ich darüber nachdenke, Deutschland zu verlassen

Ich komme aus Dietzenbach bei Hanau, wie Sedat Gürbüz, eines der Opfer des Massakers. Hanau zeigt: Jeder Nicht-Weiße kann das nächste Opfer sein. Ein Kommentar.

Kaan Bagci, 1994 im hessischen Langen als Sohn türkischer Einwanderer geboren, ist freier Mitarbeiter in der Community-Redaktion des Tagesspiegels.

„Er soll Sedat als allererstes erschossen haben, Cousins. Sedat Gürbüz. Er ist mit uns in derselben Straße groß geworden und ich kenne die ganze Familie“, schrieb mein Bruder mittags um Viertel nach 12 Uhr am Tag nach dem Massaker in eine WhatsApp-Gruppe. Einer meiner Cousins berichtet, dass er wenige Stunden zuvor, etwa gegen 19 Uhr, noch in Hanau gewesen war. „Möge Allah dich schützen“, antworten ihm die anderen im Gruppen-Chat.

Für nicht-weiße Deutsche ist Hanau überall

Hanau also. Hanau liegt circa 25 Kilometer von Dietzenbach entfernt und beide Städte verbindet ihre Vielfalt an Nationen und Kulturen. Dietzenbach ist meine Heimatstadt, aber nicht nur meine. Auch Sedat Gürbüz, eines der Opfer des rassistischen Massakers, ist in Dietzenbach groß geworden und hat dort auch bis Mittwochabend noch gelebt.

Nun ist er tot und mit ihm gleich acht weitere Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Freundin, deren Mutter auf der Trauerfeier in Dietzenbach war, berichtete mir, dass die Mutter von Sedat Gürbüz geistesabwesend immer wieder zwei Sätze wiederholt habe: „Mein Liebling ist weg, mein Sedat ist weg.“ Keine Tränenausbrüche und auch keine Hysterie. Ihr Kopf ganz leer und ihr Herz voller Schmerz. Hanau zeigt uns und mir abermals, dass jeder nicht-weiße Deutsche das nächste Opfer sein kann. Zu jeder Zeit und völlig zufällig. Denn Hanau ist überall.

An meiner Liebe zu Deutschland hat sich nichts geändert. Aber mein Bild von meinem Land

Eines Abends haben meine Freunde und ich über unsere Zukunft nachgedacht, so wie man das gelegentlich macht. Meinen Freunden war klar: Sie sehen sich im Alter nicht in Deutschland. Ich war fest davon überzeugt, dass ich für immer in Deutschland bleiben würde. Ich habe gesagt, dass ich dieses Land mit all seinen Chancen und Möglichkeiten schätze und liebe.

Nun, an meiner Liebe zu diesem Land, zu meinem Deutschland, hat sich nichts geändert. Aber ob ich für immer hierbleiben möchte, ist momentan eher unklar. Vielleicht doch lieber in die Sonne? Dort, wo das Leben ungefährlicher und stressfreier scheint. Unklar ist meine Idee vom sicheren Deutschland, sicher für Menschen wie mich, Menschen mit Migrationshintergrund und nicht-weißer Hautfarbe.

Auf Twitter sehe ich tagtäglich, dass ich mit meinen Zweifeln nicht alleinstehe. Viele nicht-weiße Deutsche kritisieren den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Rassismus und Diskriminierung, auch wenn nicht gerade Halle oder Hanau ist.

So viele Deutsche dürfen in diesem Land einfach nicht Deutsch sein

Sie berichten davon, dass sie Ärzte, Juristen und Lehrer sind, aber eben auch „Fremde“ oder „Ausländer“. Zurecht haben viele im Internet die Sache sofort klargestellt: Das Problem heißt Rassismus. Ausdrücke wie „fremdenfeindliche oder ausländerfeindliche Motive“ streuen nur noch mehr Salz in die sowieso tiefe Wunde von so vielen Deutschen, die in diesem Land einfach nicht Deutsch sein dürfen. Das Gift heißt Rassismus und es steckt im System.

„Mashallah“, zu übersetzen vielleicht mit „Gottes Wille ist geschehen“ oder sinngemäß einfach ein Ausdruck der Freude und Bewunderung, sagen Eltern immer, wenn sie hören, dass Kinder von Freunden und der Familie es durch Bildung, Fleiß und Talent weit gebracht haben. Nicht-weiße Deutsche sind heutzutage überall vertreten. Wir sind Politiker, Journalisten und Polizisten, führen Imbisse und Spätis.

Trotzdem müssen wir uns immer wieder gegenüber Rassisten erklären und verteidigen. Dabei sollten wir uns auf wichtigere Dinge konzentrieren. Dieses Land verrottet nämlich von innen. Tag für Tag breitet sich das Gift des Rassismus ohne Gegenwehr aus. Bis vor kurzem noch war ein Mann, der jetzt der beste Freund der AfD ist, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Immer wieder werden rechtsextreme Polizeinetzwerke entdeckt und kurze Zeit später wird es wieder ruhig um sie. Kein Wunder also, dass der Rassismus wie ein Feuer um sich greift und nicht gelöscht werden kann.

Die AfD vergiftet das Klima offen und bewusst

Mit der AfD gibt es das Problem nicht mehr nur in den Organen des Verfassungsschutzes und der Polizei, wo die Gesellschaft kaum Einblick hat und wenig Kontrolle ausüben kann. Diese Partei, die in ihren Reihen Nazis hat, vergiftet das gesellschaftliche Klima ganz offen und bewusst.

Zur Erinnerung: diese Partei hat kurz zuvor ein durch und durch rassistisches Malbuch veröffentlicht, dass unter anderem säbelschwingende Männer und verhüllte Frauen auf fliegenden Teppichen zeigt. Wenn Alexander Gauland also davon spricht, es sei schäbig, die Tat von Hanau zu instrumentalisieren, um gegen die AfD zu hetzen und er gleichzeitig die rassistischen Motive dahinter negiert, lügt er absichtlich und gewissenlos. Und das sind nur die Rassismen, die auf großer Bühne öffentlich werden. Jeden Tag machen nicht-weiße Deutsche viele rassistische Erfahrungen, die nie ans Tageslicht kommen. Dafür müsste man öfter mit ihnen reden oder sie am besten selbst zu Wort kommen lassen.

Mein Vater ruft an. Er will meine Stimme hören. Die Gefahr ist so unfassbar präsent

Freitagabend ruft mein Papa mich an, weil er meine Stimme hören und mit mir über das Geschehene reden möchte. Er ist schockiert und weiß auch, dass ein jeder von uns nicht-weißen Deutschen das nächste Opfer sein kann: der eigene Sohn und die eigene Tochter. Die Gefahr ist so unfassbar präsent. Deshalb braucht es Politiker, die dieses Problem entschlossen anpacken. Aber sie werden diese Mammutaufgabe nicht allein lösen können. Sie brauchen die Hilfe der Opfer und potenziellen Opfer, der Engagierten und Empörten, die auf öffentlichen Plattformen bereits seit Jahren um Mitbestimmung und Anerkennung kämpfen.

Nicht-weiße Deutsche müssen gesehen und gehört werden, damit der rassistische und verschwörungstheoretische Dreck beseitigt werden kann. Schon damals hat uns die Politik die Aufklärung der NSU-Morde versprochen und hat ihr Versprechen gebrochen. Die rassistischen Machenschaften eines Systems, das uns Bürger eigentlich schützen soll, werden unter Verschluss gehalten und die Problemlösung verhindert. Lasst uns Deutsche also einander endlich wieder näherkommen und ehrlich über unser Verhältnis mit Rassismus sprechen. Denn in Zeiten der Krise müssen wir aufeinander zugehen und uns festhalten.

Kaan Bagci

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