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Pinchas Goldschmidt ist Oberrabbiner von Moskau und seit 2011 der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, in der mehr als 700 Rabbiner von Dublin bis Chabarowsk vereinigt sind. In diesen Tagen erscheint sein Buch „An die Gemeinschaft und an die Welt – Gedanken zu drängenden Fragen der Zeit“ (Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin 2018).Foto: Kai-Uwe Heinrich

© Kai-Uwe Heinrich

Rabbiner Pinchas Goldschmidt: "Wir wehren uns gegen Anschläge auf die Religionsfreiheit"

Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz spricht über Beschneidung, Antisemitismus, den Dialog mit Muslimen und die Gefahr durch ultrarechte Parteien.

Geben orthodoxe Rabbiner, wenn sie Frauen begrüßen, diesen die Hand?

In der Orthodoxie haben wir dazu ein breites Spektrum, es reicht von ultraorthodox bis modern. Außerdem haben wir eine Ost-West-Spaltung. Rabbiner in Osteuropa geben Frauen seltener die Hand als Rabbiner in Westeuropa.

Sollte ein solcher Handschlag nicht selbstverständlich sein?

Ich sage mal so: In einer Zeit, in der große Weltreligionen ihre Missbrauchsgeschichte aufarbeiten, weil Geistliche sich an Gemeindemitgliedern und sogar Kindern vergriffen haben, sollte man die Entscheidung von Juden oder Mitgliedern anderer Religionen, ob Hände geschüttelt werden, respektieren.

Steht Gottes Wort über den von Menschen gemachten Gesetzen?

Wenn das menschliche Gesetz ein moralisches Gesetz ist, erhält jedes menschliche Gesetz eine göttliche Stärke. Ist wiederum ein menschliches Gesetz unmoralisch, bleibt die göttliche Moral als Kompass für den Menschen.

Sind Religionen wie Judentum, Christentum oder Islam reine Privatsache oder dürfen ihre Anhänger auch einen gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag verfolgen?

In Frankreich gibt es den Laizismus, und auch in anderen europäischen Ländern tendiert man dazu, die Religion zu privatisieren. Aber spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde verstanden, dass Religionen auch weltpolitische Bedeutung haben können.

"Falls der Atheist kein Antisemit ist, habe ich kein Problem mit ihm"

Ist es legitim, wenn Gläubige aus ihrer Religion heraus politisch tätig werden?

In Deutschland definieren sich zwei große Parteien, CDU und CSU, durch das Christentum. Sie betrachten Religion als Teil ihres Selbstverständnisses und als Teil der öffentlichen Diskussion. Das wird akzeptiert. Ein Problem entsteht, wenn Anhänger einer Religion die Regeln der liberalen Demokratie ausnutzen, um gegen diese Demokratie zu kämpfen.

Steht Ihnen ein frommer Muslim näher als ein säkular-agnostischer Humanist?

Es kommt darauf an, welche Werte beide vertreten. Falls der Atheist kein Antisemit ist und mich als Mitbürger und Angehöriger einer religiösen und ethnischen Minderheit akzeptiert, habe ich kein Problem mit ihm. Falls andererseits ein Muslim in seiner Moschee gegen das Judentum predigt, steht er mir natürlich sehr fern. Allerdings fällt es religiösen Menschen in einer zunehmend säkularen Welt leichter, zueinander zu finden. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Einschränkungen religiösen Lebens in Europa, wie etwa bei der Beschneidungsdebatte.

Sie meinen den Versuch, Beschneidungen als Körperverletzung zu werten und daher zu verbieten.

Ja, da waren christliche, jüdische und muslimische Geistliche auf einer Seite. Sie haben verstanden, dass dies Anschläge auf die Religionsfreiheit sind. Das war auch so, als es um ein Verbot des Schächtens ging.

Häufen sich derartige Anschläge auf die Religionsfreiheit?

Bis vor wenigen Jahren hatten Juden, die in Europa leben, keine Probleme mit der Beschneidung. Mit der Migration vieler Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika gibt es in Europa weniger als zwei Millionen Juden, aber vierzig Millionen Muslime. Die Beschneidungsdebatte ist eine Art Kollateralschaden der ausländerfeindlichen Stimmung.

"Die Beschneidung muss von medizinisch ausgebildeten Personen durchgeführt werden"

Was entgegnen sie jenen, die sagen, Beschneidung sie ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen?

Wenn man etwa Kindern das Ohr für Ohrringe durchsticht, hat das keinen erkennbaren medizinischen Zweck. Auch wenn man sie zum Skifahren mitnimmt, was ja ein höheres Verletzungsrisiko bedeutet, greift man im Grunde genommen auch in ihre Unversehrtheit ein. Selbstverständlich muss die Beschneidung von medizinisch ausgebildeten Personen durchgeführt werden. Dann ist sie akzeptabel. In einer liberalen Demokratie sollte die Mehrheit in der Lage sein, die Sitten und Lebensgewohnheiten von Minderheiten zu akzeptieren. Alles andere wäre das Ende der liberalen Demokratie und des europäischen Projektes.

Sie haben vor drei Jahren den Muslim-Jewish-Leadership Council ins Leben gerufen. Warum ist Ihnen der Dialog mit Muslimen so wichtig?

Wenn wir von Europas Zukunft sprechen, ist ein solcher Dialog äußerst notwendig. Beide Gruppen sind Minderheiten. Und wenn jüdische Kinder in der Öffentlichkeit gefahrlos mit einer Kippa auf dem Kopf herumlaufen wollen, ob in Berlin oder Paris, geht das nur ohne Antisemitismus. Entscheidend für ein Europa, in dem 10 bis 15 Prozent Muslime leben, ist nicht, ob Frauen ein Kopftuch tragen oder Männer Frauen die Hand geben. Entscheidend ist, dass Muslime nicht akzeptieren dürfen, dass im Namen ihrer Religion Gewalt gegen Minderheiten und Andersgläubige ausgeübt wird. Da verläuft die rote Linie.

Hat der Antisemitismus in Europa seit 2015 durch die Flüchtlinge zugenommen?

Von Flüchtlingen selber kamen sehr wenige Attacken gegen Juden. Stärker aber sind ultrarechte Parteien geworden, die glauben, sich gegen die Migration wehren zu müssen. In Deutschland, anders als in anderen westeuropäischen Ländern, werden die meisten antisemitischen Angriffe nicht von Muslimen verübt, sondern von Ultrarechten. Die Attacke auf die Synagoge in Pittsburgh hat die Gefahr, die von dieser Seite droht, erneut verdeutlicht.

"Wir wenden uns gegen den religiösen Extremismus"

Welchen Anteil trägt die Religion des Islam am Antisemitismus?

Das heutige Problem ist der Israelisch-Palästinensische Konflikt, der den Antisemitismus verstärkt hat. Aber auch die Geschichte spielt eine Rolle. Wenn wir uns mit christlichen Würdenträgern treffen, diskutieren wir manchmal immer noch darüber, was vor 2000 Jahren geschehen ist. Mit muslimischen Geistlichen reden wir über die vergangenen achtzig Jahre.

Vor drei Jahren, nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“, hat die Europäische Rabbinerkonferenz ein Manifest gegen religiösen Fanatismus verabschiedet. Was fordern Sie?

Die Antwort der Ultrarechten in Europa auf die Anschläge war, jetzt den Islam bekämpfen zu müssen – an allen Fronten, vom Beschneidungs- über das Schächtungs- bis zum Kopftuchverbot. Wir dagegen wenden uns gegen den religiösen Extremismus, nicht gegen die Weltreligion des Islam. Dafür hatten wir drei Ideen. Erstens die vollständige Transparenz von Spenden an religiöse Organisationen. Extremismus braucht Geld, jemand muss ihn finanzieren. Woher das Geld kommt, muss transparent sein, um Extremismus so den Nährboden zu entziehen. Zweitens muss die Ausbildung von Geistlichen in europäischen Ländern erfolgen oder durch eine europäische Instanz zertifiziert worden sein. Und drittens: Es muss in jeder Glaubensgemeinschaft ein Mitglied geben, das darauf achtet, dass religiöse Texte nicht für extremistische Zwecke manipuliert und verwendet werden.  

Wie war die Resonanz?

Wir haben das Manifest an alle Regierungen innerhalb der Europäischen Union verschickt. Sieben haben uns geantwortet, zwei Länder – Österreich und Frankreich – haben die Ideen akzeptiert und umgesetzt. Auf eine Antwort aus Deutschland warten wir noch.

"Extrem rechte Parteien hoffen auf einen Koscherstempel"

Welchen Anteil haben rechtspopulistische Parteien am Antisemitismus?

Der öffentliche Diskurs ist viel extremer geworden als früher, Ressentiments, Hass und Falschinformationen können ungehindert über soziale Medien verbreitet werden. Menschen am Rande der Gesellschaft, das hat sich ja in Pittsburgh gezeigt, können radikalisiert werden. Weil sie glauben, ihre Heimat beschützen zu müssen, nehmen sie ein Gewehr in die Hand und ermorden Juden in einer Synagoge.

Einige dieser rechtspopulistischen Parteien geben sich sehr israelnah. Was halten Sie davon?

In vielen europäischen Ländern versuchen extrem rechte Parteien, jüdische Gemeinden zu erobern – aber nicht, weil sie Juden mögen, sondern weil sie sich davon einen Koscherstempel für ihre Ideologien erhoffen. Sie wollen als salonfähig erscheinen. Wir waren in der vergangenen Woche in Israel und haben genau darüber mit der politischen Elite gesprochen. Wir haben den israelischen Politikern klar gesagt: Ihr dürft keinen Koscherstempel geben. Das Thema war der Hauptgrund unserer Reise.

Das Gespräch führte Malte Lehming.

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