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Eine echte "Tschaika" - 2500 Euro kostet sie.

© Nik Afanasjew

Quer durch Russland - 13: Der Uhrmacher von Uglitsch

Sergej Wolkow ist als Letzter geblieben in der Uhrenfabrik von Uglitsch. Andere Unternehmer fliehen in die Illegalität, doch er nicht, aus Liebe zu Russland. Seine Uhren tragen Europäer, Amerikaner - und ehemalige Mitarbeiter des KGB.

Unser Autor Nik Afanasjew reist zwei Monate lang quer durch Russland, um zwei schwere Fragen zu beantworten: "Wie ticken die Russen? Und warum sind sie so?" Dies ist eine Reportage aus der Kleinstadt an der Wolga Uglitsch.

Jeder einzelne Schritt hallt lange nach in den Gängen der ehemaligen Uhrenfabrik von Uglitsch. Die Gänge sind fensterlos, und es ist in ihnen so gespenstisch still, wie es nur an Orten sein kann, die für Menschenmassen gebaut wurden. 10.000 Arbeiter haben hier früher Uhren gefertigt. Im Jahr 2009 wurde die Fabrik geschlossen.

Wer aber hineinlauscht in die Stille dieser Fabrik, kann von irgendwoher amerikanische Country-Musik hören, melancholisch und melodisch, aus lange vergangenen Tagen, Oh, dear, my dear!, gesungen von rauen, tiefen Stimmen. Noch ein, zwei, drei Schritte durch einen dieser endlosen Gänge, die Musik wird lauter – eine Tür steht offen. In dem Zimmer sitzt ein Mann in Schlabbershirt, der Bart ist unordentlich rasiert. Er ist umgeben von Mikroskopen, Lupen, Pinzetten und etwas schwerer Greifbarem: dieser ganzen Wucht sowjetischer Vergangenheit. „Kommunisten! Seid die Avantgarde im Kampf der Völker!“, steht auf einem roten Banner über seinem Kopf. Sergej Wolkow kämpft auf den Ruinen der Planwirtschaft seinen eigenen Kampf.

Die Russen haben ein paradoxes Verhältnis zu ihrem Land

Das ist eine Geschichte über den verspäteten Untergang der Sowjetunion in einer Kleinstadt an der Wolga. Und über das paradoxe Verhältnis der Russen zu dem Staat, in dem sie leben. Im Grunde aber ist es eine Geschichte über einen Mann, der in einer verlassenen Fabrik Uhren baut, und dabei auf seine Art mit der Zeit geht.

Wolkow nimmt eine Uhr von seinem Handgelenk und legt sie neben sich auf den Tisch. Weißes Ziffernblatt, schwarze Ziffern, keinerlei Schnörkel. Der Name – Indicator – ist unaufdringlich links neben der 3 platziert. Diese Uhr kostet 2500 Euro. „Russen haben Hemmungen, so viel Geld für ein heimisches Produkt auszugeben“, sagt Wolkow. „Aber wenn sie sehen, dass die Qualität stimmt, kann ich sie schon überzeugen.“

Sergej Wolkow baut Uhren, repariert sie und stellt Ziffernblätter her. Die Endmontage findet in Moskau statt. „Es ist zu staubig hier für Feinarbeiten, die Mauern sind alt“, sagt Wolkow und reibt dabei den Daumen und den Zeigefinger seiner rechten Hand aneinander, als würde sowjetischer Staub in einem fort von der Decke rieseln. Die russische Hauptstadt ist aber nicht so Wolkows Fall. „Wenn ich wiederkomme, mache ich erst einmal die Augen zu und höre in Uglitsch an der Wolga nur die Stille. Es dauert etwas, bis dieses Moskauer Grundrauschen verschwindet.“

Der 42-Jährige ist in Uglitsch aufgewachsen, seine Eltern haben beide in der Uhrenfabrik gearbeitet. „Tschaika“ – Möwe – hieß sie, wie auch eines ihrer erfolgreichsten Modelle. Benannt nach dem Spitznamen von Walentina Tereschkowa, die 1963 als erste Frau der Welt ins All flog. Es war eine Zeit des Aufbruchs in der Sowjetunion.

Jeder Dritte in Uglitsch war Angestellter in der Fabrik

„Ich war als Kind einmal bei einem Freund aus einer anderen Stadt und fragte ihn nach einer Pinzette. Er hatte keine da. Ich war sehr verwundert. Bei uns war in jedem Haushalt jedes mögliche Werkzeug“, sagt Wolkow. Kein Wunder, war doch jeder Dritte der 30.000 Einwohner in der Fabrik angestellt. „Besonders pünktlich sind die Leute hier nicht. Aber sie halten sich alle für Uhren-Experten.“

Nach der Schule arbeitete Wolkow zunächst als Restaurateur von Ikonen, lernte dann Goldschmied – um anschließend doch in der Uhrenfabrik anzufangen. „Mich haben immer viele verschiedene Sachen interessiert“, sagt er. Zwischenzeitlich kehrte er der Fabrik den Rücken, restaurierte Porzellan aus Zarenzeiten, verkaufte es an Touristen. Dann kam er zu Beginn der nuller Jahre in die Fabrik zurück. „Tschaika war damals schon komplett privat. Und komplett aus der Zeit gefallen. Die meisten arbeiteten noch ohne Computer. Wir haben hier im Keller noch Maschinen aus der Stalinzeit gefunden. Die Führung war einfach nur hilflos.“ Als dann allen klar war, dass die Fabrik schließen würde, wurde sie geplündert. „Ich kann zeigen, wo in der Stadt geklaute Maschinen stehen, die Leute verstecken die nicht einmal mehr.“

Sergej Wolkow hat für seinen Betrieb einen Raum in der verlassenen Fabrik gemietet. Mit dem Staat will er so wenig wie möglich zu tun haben. 
Sergej Wolkow hat für seinen Betrieb einen Raum in der verlassenen Fabrik gemietet. Mit dem Staat will er so wenig wie möglich zu tun haben. 

© Nik Afanasjew

Zunächst aber geht Wolkow mit schwingenden Schritten durch seine Werkstatt und zeigt, was dort so alles an den Wänden hängt. Zum Beispiel eine vergilbte Weltkarte, in der Stecknadeln anzeigen, in welchen Ländern Wolkow Partner hat, mit denen er sich austauscht – oder wohin er seine Uhren verkauft. In Asien sind einige Länder markiert, in Europa auch – und eine Nadel steckt auch in Kalifornien. Neben der Weltkarte hängen viele selbst gemalte Bilder, auf denen Soldaten schießen und bluten. Panzer gibt es auch, viele Panzer. „Von meinem kleinen Sohn“, erklärt Wolkow, der verheiratet ist und zwei Kinder hat. Auf der Rückseite eines Bildes steht: „Der Hauptmann Denisow rettet seine Brigade vor den Nazis.“

Uhren waren zu Sowjetzeiten etwas Besonderes

Auch wenn Wolkows Weltkarte eine Stecknadel in den USA aufweist, auch wenn er Country hört und als eigenbrötlerischer Selfmade-Uhrenmacher vielleicht besser nach Kalifornien als an die Wolga passen würde, malt sein Junge Weltkriegspanzer. Russische Jungen aller Generationen machen das seit dem Zweiten Weltkrieg. Manchmal bleiben Uhrzeiger sehr hartnäckig stehen.

Uhren waren zu Sowjetzeiten etwas Besonderes. Das Land stand im Ruf, in der Rüstung Spitzenprodukte zu fertigen, seine Bürger aber mit zweitklassiger ziviler Technik abzuspeisen. Als ein großer Nachteil – vor allem im Vergleich zu den USA – galt die fehlende Fähigkeit, Ergebnisse der Rüstungsforschung auch zivil zu nutzen. Bei Uhren aber gelang der Sowjetunion vielfach genau das. Zunächst für militärische Zwecke erdachte Modelle wurden später zu besonders stabilen und präzisen Armbanduhren für die sowjetische Bevölkerung. Poljot, Vostok und Raketa sind bis heute bei Sammlern beliebt.

Die Tschaika-Fabrik war früher „eine Stadt in der Stadt“, sagt Wolkow. „Hier wurden sowohl die Uhren als auch die Maschinen für ihre Herstellung gemacht. Im Grunde war das eine riesige Manufaktur.“ So kam in Uglitsch eigentlich erst mit dem Niedergang der Fabrik das endgültige Ende des Kommunismus, der zuvor durch diese riesige Produktionsstätte Kontinuität garantierte. Der Preis, den die damaligen Besitzer am Ende für die Fabrik verlangten, betrug eine Kopeke.

Als die Fabrik abgewickelt wurde, machte sich Wolkow mit einem Partner selbstständig. Sie stellten komplizierte Ziffernblätter her, ganze Uhren waren in Planung, Maschinen wurden angeschafft, ein Raum in der verlassenen Fabrik angemietet. Die Mangelwirtschaft früherer Tage hatte aus den Sowjetbürgern Meister der Improvisation gemacht. Wolkow zeigt ein Gerät, das einen Klumpen durchsichtiger Masse präzise auf ein Metallplättchen herunterdrückt. „Ich habe von einem alten Mütterchen gelernt, aus Gelatine Silikon zu kochen“, sagt er und drückt einen Hebel, damit ein Arm des Geräts sanft auf ein Ziffernblatt runterfährt.

Die Mangelwirtschaft machte aus Sowjetbürgern Meister der Gier

Doch die Mangelwirtschaft früherer Tage hat aus manchen Sowjetbürgern in den 90er Jahren auch Meister der Gier gemacht. „Die Leute haben es nicht verstanden, wenn sie für einen investierten Rubel nicht sofort drei herausbekamen. Diese ganzen neuen Businessmen wollten nur schnelles Geld“, sagt Wolkow und zum ersten Mal wird er etwas lauter. Die Zeit, von der er dann berichtet, muss schwer gewesen sein. Der Partner wollte aussteigen und sein Geld zurück, das sie für die Maschinen ausgegeben hatten, mit denen Wolkow arbeitete. „Der Typ, der mich abwickeln sollte, stand schon hier in der Werkstatt. Ich konnte selbst nicht glauben, dass wir uns am Ende geeinigt haben“, sagt Wolkow als er die Werkstatt von außen abschließt.

Seit 2012 ist der Streit endgültig begraben, Wolkow selbstständig – und er beschäftigt sogar zwei Helfer, wenn er einen entsprechenden Auftrag hat. Dauerhaft anstellen kann er die nicht, das sei zu teuer – und die russischen Steuerregeln würden Unternehmer wie ihn gängeln. „Unsere Gesetze wurden von Leuten geschrieben, die Produktion von Dingen für einen Fehler an sich halten“, sagt Wolkow. Er schmunzelt, weil er weiß, dass er übertreibt. Aber Russland macht es seinen Selbstständigen schwer. Darum will er mit seinem Betrieb ja nicht zu groß werden, „sonst versinke ich in Bürokratie und in Steuerzahlungen“.

Viele russische Unternehmer melden ihre Gewerbe deshalb gar nicht erst an. Die Schattenwirtschaft wächst, seitdem das Land in eine schwere Rezession gerutscht ist und etliche Unternehmen Löhne kürzen und Angestellte entlassen. Wolkow aber will nicht in die Illegalität. Dafür ist er zu sehr Patriot. Er liebt sein Land, sagt er, aber trotzdem sei es in geschäftlichen Dingen besser, nicht viele Berührungen mit dem Staat zu haben, nicht aufzufallen. Und Wolkow, der Kleinunternehmer am Ende des Ganges einer stillgelegten Fabrik, fällt nicht auf.

Heute kommen Touristen nach Uglitsch - sie kaufen meist Fälschungen

Für eine Stadt, deren größte Krise erst sieben Jahre zurückliegt, wirkt Uglitsch im Zentrum sehr durchgefegt. Es ist ein idyllisches Bilderbuch-Russland, mit Zwiebelkuppeln und einer Wolga-Promenade mit gusseisernen Laternen. Uglitsch liegt im sogenannten Goldenen Ring nordöstlich von Moskau. Hier wurde 1591 Zarewitsch Dimitri ermordet, es begann die Zeit der Wirren – die Smuta – und Truppen des Hochstaplers Pseudodimitri II., der sich kurzzeitig erfolgreich als Zarensohn ausgegeben hatte, verwüsteten die Stadt. Viel Geschichte also, aber in den 30er Jahren, als die Tschaika-Fabrik gebaut wurde, „war hier nichts mehr“, sagen die Leute.

Heute halten Wolga-Dampfer in Uglitsch, Touristen können in einem Laden auf dem Steg Uhren erwerben. Allerdings ist hier, wie früher beim zweiten Pseudodimitri, vieles nichts weiter als eine Fälschung. „Das ist beschämend“, sagt Wolkow, als er an einem Laden vorbeigeht. „In China hergestellter Mist, auf den billig der Name Uglitsch geklebt wird.“ In den Auslagen mancher Geschäfte stehen als Dekoration Stanzmaschinen der ehemaligen Uhrenfabrik. Die von Wolkow erwähnten Plünderer haben sie dorthin gestellt. „Einmal habe ich einen zur Rede gestellt. Aber es macht heute keinen Sinn mehr.“

In der Gegenwart wird viel in Uglitsch gebaut. Wohnhäuser entstehen rund um die bereits mit viel Mühe restaurierten Kirchen. Es gibt auch einige Bauruinen. Das moderne Russland macht sich nicht die Mühe, alte Sünden auszubessern, sondern lebt scheinbar ebenso parallel zu seiner Vergangenheit weiter wie russische Bürger wie Sergej Wolkow parallel zum Staat existieren. Vor allem in einer Kleinstadt wie Uglitsch, wo ein zügig fahrendes Auto Blicke auf sich zieht und sich die Menschen noch grüßen, fällt das auf.

Durch die Wirtschaftssanktionen sei Bewegung nach Uglitsch gekommen

Auf dem Weg zurück zu seiner Werkstatt zeigt Wolkow auf einige geschlossene Läden in der Stadt – sowie später auf manche auf dem Fabrikgelände neu eröffnete Werkstätten. Beides sei auch eine Folge der Sanktionen des Westens im Zuge der Ukrainekrise. „Eine Bereinigung“ habe stattgefunden, so erklärt es Wolkow. Unrentable Geschäfte in der Stadt, Friseure und Kramläden, die von Frauen reicher Geschäftsmänner aus reinem Spaß geführt worden seien, hätten beispielsweise dichtgemacht. Dafür würden heute auf dem riesigen Fabrikgelände durch staatlich angeregte Importsubstitutionen wieder mehr technische und mechanische Erzeugnisse hergestellt. „Es klappt nicht alles, aber durch die Sanktionen ist tatsächlich mehr Bewegung reingekommen.“

Bewegung herrscht vor allem im vorderen Teil des riesigen Geländes. Nach hinten hin stehen Fabrikhallen und ehemalige Produktionsanlagen größtenteils leer. Leer, bis auf die Werkstatt von Sergej Wolkow, der dort meistens bis tief in die Nacht Maß nimmt, fräst und hämmert.

So schnell ändern sich die Zeiten, dass Wolkow gar nicht mehr sagen kann, ob er noch auf der Expertise aus der ehemaligen Fabrik aufbauen kann. „Doch, etwas gibt es!“, sagt er dann, geht zu einem Schrank und holt dort alte sowjetische Fachbücher der Physik und Chemie heraus. „Als Grundlage immer noch top. Sind seither keine besseren rausgekommen“, erklärt er. Für die nahe Zukunft hat Wolkow einen Auftrag der Regierung, der ihn gut über die Runden bringen wird. 50 Uhren für ehemalige Mitarbeiter des KGB. Als Basismaterial wird er Titan verwenden. Das passe zum Geheimdienst, sagt er.

Es ist zeitlos.

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