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Ein Blick auf das Hochsicherheitsgefängnis in Silivri.

© Imago Images/Le Pictorium/Stefania Mizara

Qualvoller Tod in der Einzelzelle: Wie Erdogan in der Türkei seine Gegner einpferchen lässt

Überbelegte Zellen, schlechtes Essen, mangelnde Gesundheitsversorgung: Durch den Tod eines Häftlings wird die Situation in türkischen Gefängnissen publik.

Ein feuchtes Kellerloch, ein Lager auf dem Betonboden und eine Leiche im Plastikstuhl: Ein grausiges Foto hat die Türken jetzt daran erinnert, dass vier Jahre nach dem Machtkampf zwischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem einstigen Verbündeten Fethullah Gülen noch immer tausende Menschen im Gefängnis schmachten.

Der Tote im Stuhl war ein als Gülen-Anhänger verurteilter Polizist, der im Gefängnis vergeblich um medizinische Hilfe gefleht hatte, bevor er jetzt in einer Einzelzelle qualvoll starb. Das Foto, offenbar aus den Ermittlungsakten geschmuggelt und von einem Exilmedium veröffentlicht, führt der türkischen Gesellschaft die Haftbedingungen vor Augen, die Menschenrechtler bisher vergeblich anprangerten.

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Der 44-jährige Mustafa Kabakcioglu war stellvertretender Kommissar bei der Polizei im nordtürkischen Giresun, bis er im Sommer 2016 per Notstands-Dekret aus dem Staatsdienst entlassen, verhaftet und als Gülen-Anhänger zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde.

Politische Häftlinge nahm Erdogan von Amnestie aus

Presseberichten zufolge wurde ihm zur Last gelegt, dass er fünf Lira an einen Wohlfahrtsverband gespendet hatte, der später als Gülen-nah verboten wurde, und dass er eine App auf sein Handy geladen habe, die von vielen Gülen-Anhängern genutzt wurde – genug, um in das feinmaschige Schleppnetz zu geraten, mit dem Erdogan nach dem Putschversuch 2016 die Sympathisanten seines Erzfeindes jagte.

Tausende Menschen verschwanden damals wegen solcher Vorwürfe hinter Gittern, und dort sitzen die meisten noch immer: Von einer Amnestie wegen der Coronavirus-Pandemie wurden sie im April als politische Häftlinge ausdrücklich ausgenommen, während fast 100.000 kriminelle Sträflinge freigelassen wurden, darunter Mafia-Bosse und rechtsradikale Rädelsführer.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geht hart gegen seine Gegner vor.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geht hart gegen seine Gegner vor.

© Adem Altan/AFP

Mit der Amnestie sollten angeblich die Gefängnisse entlastet werden, doch die Häftlinge haben davon nichts mitbekommen, wie der Vizevorsitzende der parlamentarischen Menschenrechtskommission, Sezgin Tanrikulu von der oppositionellen CHP, jetzt bei einer Überprüfung der Haftanstalten feststellte.

Nach wie vor würden Acht-Mann-Zellen mit 20 Gefangenen oder mehr belegt, berichtete Tanrikulu. Weil es in diesen Zellen nur acht Pritschen und eine Toilette gebe, müssten die Häftlinge reihum auf dem Boden schlafen und ihre Notdurft rationieren.

Besuchsrechte wegen Pandemie stark eingeschränkt

Für die Verpflegung der Insassen veranschlagt das Gefängnis-Budget demnach umgerechnet 90 Cent pro Kopf und Tag. Eine ausgewogene Ernährung sei damit nicht möglich, stellt Tanrikulu fest, und das Essen in den Haftanstalten sei entsprechend: schlecht, wenig und ungesund. Auf medizinische Behandlung müssten erkrankte Häftlinge teils monatelang warten. Besuchsrechte sind wegen der Pandemie drastisch eingeschränkt – auf einen Besucher im Monat, eine halbe Stunde lang mit Trennscheibe.

Kabakcioglu muss das alles genau so erlebt haben – das geht aus seinen Briefen und Tagebüchern hervor, die der Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu von der Oppositionspartei HDP nach Rücksprache mit der Witwe vorlegte. „Wir bekommen keine Luft, wir können uns kaum rühren“, notierte Kabakcioglu schon vor drei Jahren. Mit 17 Gefangenen in eine Acht-Mann-Zelle gesperrt, verlor der anfangs kräftige Mann in der Haft seine Gesundheit – er magerte stark ab und fiel in Ohnmachten.

Jetzt wird ermittelt – wie das Foto an die Öffentlichkeit kam

Als er in diesem Sommer zu husten begann, steckte die Gefängnisleitung ihn in eine Einzelzelle, ließ ihn aber nicht auf Covid-19 testen – erst die Obduktion ergab, dass er nicht mit dem Coronavirus infiziert war. Aus der Einzelzelle flehte der Häftling um Behandlung. „Ich habe Schwellungen im Mund und am Bein, mein Arm ist taub, ich kann unterhalb der Gürtellinie nichts spüren und mich nicht bewegen“, schrieb er in seiner letzten Eingabe an den Gefängnisarzt.

Zwei Tage später fand ein Wärter ihn beim Aufschließen morgens tot im Plastikstuhl, den Kopf nach hinten abgekippt. Am 29. August war das, doch Kabakcioglus Ehefrau und Kinder bekamen keine Auskunft auf ihre Fragen. Erst als sechs Wochen später die drastischen Fotos aus der Todeszelle an die Öffentlichkeit kamen, sah sich die Staatsanwaltschaft zu einer Erklärung genötigt: Der Mann habe nicht ins Krankenhaus gewollt, hieß es darin. Mit einem Ermittlungsverfahren will die Justiz nun klären, wie die Fotos an die Öffentlichkeit gelangen konnten: Die Bilder seien vermutlich von „heimtückischen Randgruppen“ lanciert worden, um die Gesellschaft aufzuwiegeln, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Der Tod von Kabakcioglu sei aber kein Einzelfall, sagt der Menschenrechtler Gergerlioglu, der die Lage in den türkischen Gefängnissen seit Jahren anprangert. Er selbst kenne Dutzende solcher Fälle, die von der Justiz vertuscht wurden. Auch das einsame Sterben von Kabakcioglu hätte vermutlich wieder niemanden interessiert, meint er – „wenn nicht dieses Foto aufgetaucht wäre, dass die Öffentlichkeit aufgerüttelt hat“.

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