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Starke oder schwache Führer machen die Geschichte, glaubt Putin. Hier ein als Zar verkleideter Mann mit einem Pappbild von Putin und Fahren mit Stalins Konterfei (Archivbild).

© Misha Japaridze/AP/dapd

Putins Geschichtsbild: Schwache Führungsfiguren verursachten das Ende von Zarenreich und Sowjetunion

Russlands Präsident zieht nur eine Lehre aus der Geschichte: Man muss für den Sieg schlicht länger zu Kampf und Gewalt bereit sein als die Gegner. Ein Gastbeitrag.

Alexander Brakel ist promovierter Osteuropahistoriker und zurzeit als Gastwissenschaftler an der Wesleyan University in Connecticut tätig. Er hat mehrere Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung geleitet.

Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges wird über Ziele und Motivationen des russischen Präsidenten Putin für die Invasion nachgedacht. Gerade auch, weil im Westen teilweise der Eindruck herrscht, Putin habe sich verschätzt.

Man wird das Verhalten des russischen Präsidenten nur verstehen können, wenn man sich zwei seiner Grundüberzeugungen näher anschaut: Die reale Angst vor demokratischen Wenden in den Ländern des postsowjetischen Raums, für die in seinen Augen nur die USA verantwortlich sein können. Und sein Geschichtsverständnis, in dem starke Persönlichkeiten Ereignisse herbeiführen, Strukturen und die Bevölkerung als Akteur aber keine Rolle spielen.
Der entscheidende Wendepunkt in Putins Verhältnis zur Ukraine trat am 22. Februar 2014 ein. Damals führten die monatelangen Massenproteste zum Rücktritt und zur Flucht des korrupten, aber russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch.

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Er glaubt wirklich, die USA regierten die Ukraine

Bis heute bezeichnet Putin den „Euromaidan“ als das Werk der USA. Diese hätten den „faschistischen Putsch“, wie er es nennt, geplant und orchestriert. Auch ohne tiefere Einblicke in die Planungen der CIA genügt ein Blick auf die Washingtons magere Erfolgsbilanz, verdeckte Regimewechsel herbeizuführen, um die Absurdität dieser Annahme zu entlarven.

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Aber in Putins Augen wird die Ukraine nun von einem russlandfeindlichen, von den USA gesteuerten Regime beherrscht. Dieser Zustand ist für Putin unerträglich. Zum einen angesichts der historischen Bedeutung der Ukraine für das russische Imperium und auch, weil er sie als Puffer zwischen Russland und der Nato sieht.. Sowohl die Besetzung der Krim wenige Tage später als auch momentane Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine sind die Reaktion auf diese Wahrnehmung.

Auf der einen Seite reiht sich diese Behauptung der US-Urheberschaft ein in die lange Liste von Unwahrheiten, die der russische Präsident zur Legitimierung seiner verbrecherischen Politik verbreitet, vom „Genozid“ im Donbass über die geheimen amerikanischen Biowaffenlabore in der Ukraine bis zu deren Atomprogramm. Zahlreiche, auch interne Äußerungen, belegen indes, dass die Angst des Kremls vor „Farbenrevolutionen“ im postsowjetischen Raum echt ist, ebenso die Annahme ihrer amerikanischer Urheberschaft.

Die Bevölkerung ist für ihn kein eigenständiger Akteur

Neben Putins ausgeprägtem Hass auf die USA ist dafür aber auch sein Verständnis für  die Ursachen historischer Ereignisse ausschlaggebend. Geschichte wird in seinen Augen von starken Führungspersönlichkeiten gemacht. Strukturen spielen eine untergeordnete Rolle. Die Bevölkerung kommt als eigenständiger Akteur gar nicht vor. Die Vorstellung, die Kiewer Massenproteste 2014 könnten tatsächlich Ausdruck weitverbreiteter Unzufriedenheit gewesen sein, scheint jenseits von Putins Denken zu liegen.

Dieses eindimensionale Geschichtsverständnis zeigte sich auch jüngst wieder in seinem Blick auf die russische Niederlage im Ersten Weltkrieg sowie auf das Ende der UdSSR. In seiner Rede vom 22. Februar dieses Jahres warf Putin Lenin und der bolschewistischen Führung vor, um des reinen Machterhalts willen den Frieden von Brest-Litowsk unterschrieben zu haben, obwohl die Niederlage Deutschlands bereits festgestanden habe.

Die russische Armee hätte also einfach weiterkämpfen sollen, um dann wenige Monate später auf der Seite der Sieger zu stehen, anstatt durch die Kapitulation gewaltige Territorialverluste hinnehmen zu müssen. Denn, keine Frage, die Friedensbedingungen der Deutschen waren harsch: Russland verlor über in Viertel seiner europäischen Landmasse sowie mehr als ein Drittel seiner Gesamtbevölkerung.

Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung löste die Februar-Revolution aus

Putins Vorwurf, die Kommunisten unter Lenin hätten diesen Vertrag leichtfertig und voreilig unterschrieben, verkennt allerdings die katastrophale Lage, in der sich die russische Armee damals befand. Das zahlenmäßig gewaltige Heer hatte sich von Beginn des Krieges an kaum in der Lage erwiesen, den besser ausgebildeten deutschen Soldaten standzuhalten. Hohe Verluste und Kriegsmüdigkeit waren denn auch der entscheidende Auslöser für die Februarrevolution 1917, die Nikolaj II. und die Romanow-Dynastie stürzte und durch eine Übergangsregierung ersetzte. Deren Weigerung wiederum, den Krieg schnellstmöglich zu beenden, läutet ihren eigenen Untergang ein.

Zar Nikolaj II. und seine Familie: Für Putin ein Schwächling.
Zar Nikolaj II. und seine Familie: Für Putin ein Schwächling.

© imago/ITAR-TASS

Und den Bolschewiki, die mit der Forderung „Brot und Frieden“ auftraten, liefen scharenweise neue Anhänger zu. Folgerichtig war eine der ersten Amtshandlungen der kommunistischen Regierung nach der Oktoberrevolution denn auch die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich.

Die von den Kriegsgegnern gestellten Bedingungen waren jedoch so hart, dass die russische Delegation sich entschloss, in einen Zustand von „weder Krieg noch Frieden“ einzutreten, also aus dem Krieg auszusteigen, ohne einen offiziellen Friedensvertrag abzuschließen und stattdessen den Zusammenbruch der Mittelmächte abzuwarten. Kurzentschlossen nahmen daraufhin die deutschen Truppen die Offensive wieder auf und stießen innerhalb von zwei Wochen hunderte von Kilometern weit nach Osten vor, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.

Die russische Armee hatte weitgehend aufgehört zu existieren. Notgedrungen unterzeichneten die Bolschewiki am 3. März 1918 den Friedensvertrag. Im selben Jahr, allerdings erst acht Monate später, kapitulierte Deutschland. So lange hätte das bolschewistische Russland Putins Logik zufolge durchhalten müssen, um die Unterzeichnung des Diktatfriedens zu vermeiden. Nichts deutet darauf hin, dass die desolate russische Armee dazu in der Lage gewesen wäre.

Die Sowjetunion ging unter, weil die Bevölkerungen nicht hinter ihr standen

Ähnlich oberflächlich ist Putins Blick auf das Ende der Sowjetunion, das er schlicht als Ergebnis von Schwäche und Führungsversagen interpretiert. Noch im Jahr 2000 äußerte er zwischen den Zeilen sein Unverständnis darüber, dass die Demokratiebewegung in Ostdeutschland nicht mit russischen Truppen niedergeschlagen worden sei. Die ukrainische Unabhängigkeit sei das Werk der dortigen Führungszirkel.

Die von breiten Bevölkerungsgruppen getragenen nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen nicht nur von Ukrainern, sondern auch von Litauern, Letten, Esten, Armeniern und Georgiern erwähnt er nicht; ebenso wenig, dass deren Forderungen auf einen Staat trafen, der durch Korruption und Misswirtschaft geschwächt und weit hinter den Westen zurückgefallen war.

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Wie das Zarenreich ging auch die Sowjetunion daran zugrunde, in der eigenen Modernisierung hinter den Staaten des Gegners zurückgeblieben zu sein. Neben der technischen Modernisierung spielte in beiden Fällen auch die ausbleibende Modernisierung des Regierungswesens eine Rolle. Sowohl die zaristische Autokratie als auch die kommunistische Diktatur waren keine ihrer Bevölkerung gegenüber verantwortlichen Regierungen.

Beide scheiterten letzten Endes am Widerstand dieser Bevölkerung. In dem Moment, als die Regierung nicht mehr fähig oder willens war, den Staat mit Gewalt zusammenzuhalten, fiel er auseinander, weil er nicht auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung rechnen konnte. Mit großer Mehrheit sprachen sich nicht nur die Balten, sondern auch die Ukrainer für die Unabhängigkeit von Moskau aus.

Wer so denkt, der hat kein Verständnis dafür, dass zehntausende Ukrainer in Eiseskälte über Monate auf dem Maidan ausharrten, im Einsatz gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit. Und er scheint nun vollkommen davon überrascht zu sein, dass so viele Ukrainer ihre Unabhängigkeit unter Einsatz ihres Lebens verteidigen. Dass eine Bevölkerung ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, sich nicht der von Führern erdachten Gang der Geschichte beugt – das passt nicht in das Welt- und Geschichtsbild Putins.

Alexander Brakel

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