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Psychische Leiden haben oft mit Angst, Stress und Überforderung zu tun.

© picture-alliance/ ZB

Psychotherapie: Wenn die Seele Hilfe braucht

Laut geänderter Psychotherapie-Richtlinie soll es künftig Akut-Behandlungen, mehr Angebote für Erst-Sprechstunden und vereinfachte Kostenübernahmeverfahren geben. Dieser Schritt war längst überfällig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Einige Zahlen aus den vergangenen Jahren: Im Schnitt hat 2016 jede Erwerbsperson 2,7 Tage wegen einer psychischen Störung am Arbeitsplatz gefehlt. Zehn Jahre zuvor waren es 1,4 Tage. Menschen mit Depression fehlten 2016 im Schnitt 35 Tage, zum Vergleich: Krebspatienten fehlten 32 Tage.

Psychische Leiden sind ein großes und ein wachsendes Problem. Sie weisen auf Krankheiten hin, die sich nicht per Röntgenbild diagnostizieren und mit Stützprothesen reparieren lassen. Und doch steht der Aufwand, der zur Bestimmung und Behandlung psychischer Krankheiten betrieben wird, in keinem Verhältnis zum Einsatz für körperliche Leiden.

In der Regel steht dem physisch Kranken eine gigantische Infrastruktur aus Praxen, Krankenhäusern, Fachleuten, Laboren gegenüber, die sich seiner annimmt, gar bemächtigt. Dagegen bleiben psychisch Leidende meist allein mit der Herausforderung, auf Anrufbeantworter von Psychotherapeuten sprechen zu müssen, auf langen Wartelisten zu landen, dann nicht sicher sein zu können, ob ihre Krankenkasse die Behandlung zahlen wird – oder sie handeln gleich auf eigene Rechnung. Das kann teuer werden und ist nervenzerrend, erst recht für labile und angeschlagene Menschen, und hat sicher nicht wenige davon abgehalten, es mit einer Therapie überhaupt nur versuchen.

Dass jetzt neue Regelungen gelten, die es schneller und unkomplizierter machen sollen, einen Therapieplatz zu finden, ist darum sehr gut. Laut der geänderten Psychotherapie-Richtlinie soll es unter anderem Akut-Behandlungen, mehr Angebote für Erst-Sprechstunden und vereinfachte Kostenübernahmeverfahren mit den Krankenkassen geben. In der Hoffnung, dass diese Verbesserungen nicht nur auf dem Papier stattfinden und den Kranken die Wahl der Therapeuten erhalten bleibt, wird man sagen dürfen: Sie sind längst überfällig.

Psychische Leiden haben oft mit Angst, Stress und Überforderung zu tun, mit dem Gefühl, Aufgaben nicht nur bestehen zu müssen, sondern auch glänzen zu sollen — während die Aufgaben nahezu täglich ein bisschen komplexer werden: Digitalisierung des Alltags und der Arbeit, permanenter Fortbildungsdruck, feierabendloses 24/7-Dasein gepaart mit Abstiegsangst. Diese rasante Anspruchsexplosion trifft hierzulande auch noch auf eine alternde Gesellschaft. Dass in so einer Gemengelage neben der Zahl der Arthrosefälle auch die der psychischen Leiden zunimmt, liegt auf der Hand.

Die Zurückhaltung der Krankenkassen bei der Kostenübernahme mag aus ihrer Sicht vielleicht wie ein guter Deal aussehen. An der falschen Stelle zu sparen, lohnt sich aber nie. Dann werden aus kleinen Leiden große, das gilt für den Körper wie für den Geist.

Dennoch hat die Psychotherapie, weniger unter Frauen als unter Männern, noch immer einen schwierigen Ruf, das Motto wenn’s mal nicht so läuft, lautet eher: Zähne zusammenbeißen! Wer daraus ausbricht und zur Therapie geht, ist eben zu weich. Wer will das schon über sich denken müssen? Und so tragen Männer bisher deutlich weniger als Frauen zu den steigenden Statistikwerten bei den psychischen Störungen bei. Was aber nicht heißt, dass sie keine hätten. Sie zögern die Auseinandersetzung nur länger hinaus und werden, soweit man die gängigen Klischees strapazieren darf, Extremsportler oder Alkoholiker oder kippen eines Tages mit psychosomatisch bedingten Herzinfarktsymptomen um.

Je weiter also die Psychotherapie in das regulärmedizinische Angebot physischer Behandlungsmethoden einbezogen wird, desto besser. Weil sich auch so das Stigma aufweichen lässt, das – neben allen organisatorischen Problemen – heute manchen noch vom Hilfesuchen abhält. Und weil es die Unsicherheiten mildert, die sich bisher mit dem Entschluss, einen Therapeuten hinzuzuziehen, verbinden.

Es ist nicht das Kniegelenk, das den einzelnen Menschen ausmacht, es ist der Geist, die Seele. Warum sich nicht besser darum kümmern?

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