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Fußgänger gehen in der Dresdner Neustadt auf einem Hügel mit Blick auf die Garnisonkirche St. Martin spazieren.

© Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa

Psychische Folgen der Pandemie: „Gar keine Angst ist auch keine Lösung“

Der Psychologe Borwin Bandelow spricht im Interview über Angst, die sich verändert und warum er nicht glaubt, dass Depressionen im Lockdown zunehmen.

Borwin Bandelow (68) ist Psychiater, Psychologe und Professor an der Universität Göttingen und Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung. Die Fragen stellte Nico Schnurr.

Herr Bandelow, Sie sind Psychologe und Psychiater und arbeiten seit langem als Psychotherapeut. Der Ausbruch der Corona-Pandemie ist eine globale Ausnahmesituation, leben wir jetzt in einer Zeit der Angst?
Natürlich weckt die Pandemie bei vielen Ängste. Allerdings müssen wir inzwischen seit vielen Monaten mit der Coronakrise leben. Kaum jemand ist durchgehend gleich verängstigt.

Das müssen Sie erklären.
Zu Beginn der Krise war die allgemeine Angst extrem. Viele haben mit Panik auf den Ausbruch des Virus reagiert. Die Gefahr war neu, sie schien unbeherrschbar. Es liegt in unserer Natur, dass uns das verunsichert.

Warum ist das so?
Wenn wir uns einer akuten Gefahr ausgesetzt fühlen, schaltet das Vernunftgehirn automatisch auf das Angstgehirn, das dann die Oberhand gewinnt. Man muss dazu wissen, dass unser Angsthirn auf der intellektuellen Stufe eines Huhnes steht.

Aber wenn man sich dann an die Gefahr gewöhnt hat, beginnt man sie irgendwann zu unterschätzen?
Diese Entwicklung haben wir bei Corona seit dem Sommer erlebt. Als die Lage unter Kontrolle schien und die Infektionszahlen niedrig waren, haben immer mehr Menschen begonnen, sich ein eigenes Risikoprofil zu erarbeiten.

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Was meinen Sie damit?
Es gibt seit dem Sommer zunehmend mehr Leute, die nicht mehr in erster Linie auf die Einschätzungen der Experten und die Warnungen der Politiker hören, sondern die eigenen Erfahrungen zum Maßstab für ihren Umgang mit dem Virus machen. Weil sie sich monatelang nicht angesteckt haben und vielleicht auch sonst niemanden im direkten Umfeld kennen, der Corona hatte, meinen sie, das Virus wird schon nicht so schlimm sein. Diese Leute bilden sich ein, sie hätten alles im Griff. Dieser Leichtsinn ist gefährlich.

„Angst hat auch eine positive Seite“

Ist Angst also doch ein guter Ratgeber in einer Pandemie?
Zumindest ist gar keine Angst auch keine Lösung. Es gibt wissenschaftliche Theorien, die ein mittleres Angstlevel für ideal halten. Wer zu viel Angst hat, fühlt sich wie gelähmt. Wer zu wenig Angst hat, wird leichtsinnig. Das lässt sich auch auf den Umgang mit der Pandemie übertragen. Es bringt nichts, in Panik zu verfallen. Angst hat aber auch eine positive Seite, sie kann ein Schutzmechanismus sein.

Borwin Bandelow (68) ist Psychiater, Psychologe und Professor an der Universität Göttingen und Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung.
Borwin Bandelow (68) ist Psychiater, Psychologe und Professor an der Universität Göttingen und Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung.

© picture alliance/dpa/SWR/ Frank W. Hempel

Deutschland ist nun wieder in einem Lockdown. Was passiert, wenn neben die Angst vor dem Virus weitere Sorgen treten?
Man spürt, eine düstere Stimmung zieht gerade auf. Und das in den Wintermonaten, in denen viele Menschen psychisch ohnehin labiler sind. Nun sind wir dazu verdammt, unsere Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Eine mögliche Vereinsamung werden aber nicht unbedingt diejenigen spüren, die auch vor Corona wenig Kontakte hatten. Es sind vor allem jüngere Menschen, für die die neuen Einschränkungen drastisch spürbar werden. Was vielen zusätzlich zusetzen dürfte, ist diese neue Aussichtslosigkeit.

Ist der Lockdown eine Gefahr für die psychische Gesundheit?
Für Menschen, die unter Angststörungen leiden, wird der Lockdown sicher zu einer sehr schwierigen Zeit werden. Der Lockdown wird aber wahrscheinlich eher nicht dazu führen, dass allgemein mehr Angsterkrankungen auftreten werden. Ich erwarte nicht, dass wir eine deutliche Zunahme von psychischen Erkrankungen erleben werden. Schon im Frühjahr hatten das viele vermutet, doch Kliniken und Psychiater haben keinen Anstieg gemeldet.

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Wie kommt das?
Angsterkrankungen und Depressionen entstehen normalerweise nicht durch äußere Einflüsse wie eine Pandemie. Das ist eine gängige Laienvorstellung. Diese Krankheiten werden etwa zur Hälfte genetisch übertragen, deswegen wird sich ihre Häufigkeit über kurze Zeiträume nicht entscheidend ändern. Auch wenn Angsterkrankungen und Depressionen also eher nicht zunehmen werden, dürften dennoch nicht wenige Menschen in der nächsten Zeit große Sorgen haben – reale Ängste, keine krankhaften. Denn diese Krise greift Existenzen an.

Sie meinen das im wirtschaftlichen Sinne?
Es gibt zwei Arten von Existenzängsten in dieser Krise. Da sind die älteren Leute und die Menschen mit Vorerkrankungen, die sich um ihre Gesundheit und ums Überleben sorgen. Und da sind die Gastronomen und Künstler, die langsam nicht mehr wissen, wie es wirtschaftlich weitergehen soll.

Welche Strategien helfen dagegen?
Es gibt darauf keine allgemein gültige Antwort. Grundsätzlich aber denke ich, dass es gut tut, wenn man der Pandemie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und gesundem Fatalismus begegnet. Natürlich sollte man sie ernst nehmen. Man muss aber auch mal abschalten und nicht jeden Morgen die Infektionszahlen analysieren.

Nico Schnurr

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