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Schwere Vorwürfe. Der mutmaßliche Drohbriefschreiber Alexander M. alias "NSU 2.0" muss sich seit Mittwoch im Landgericht Frankfurt am Main verantworten. Er soll zahlreiche Prominente attackiert haben.

© Arne Dedert/ Pool via REUTERS

Prozessbeginn zu NSU 2.0-Drohungen: Angeklagter verhält sich aggressiv im Gerichtssaal

Alexander M. provoziert zu Beginn des Prozesses am Frankfurter Landgericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm zahlreiche rechtsextreme Drohungen vor.

Die Handschellen hindern Alexander M. nicht, den Zuschauern und Kameras gleich zur Begrüßung seine zwei Mittelfinger entgegenzustrecken. Es ist die erste feindliche Botschaft des 54-jährigen Berliners, als er vor Prozessbeginn in Saal 165 C des Frankfurter Landgerichts Platz nimmt.

Angeklagt ist der kräftige Mann mit kleinen Augen und grauem Kurzhaarschnitt, weil er zwischen August 2018 und März 2021 unzählige Drohbriefe an Rechtsanwälte, Politiker, Journalisten und Behörden verschickt haben soll. Fast immer endend mit der Grußformel „Heil Hitler! NSU 2.0, Der Führer“. Unter den Empfängern waren unter anderem die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, der Satiriker Jan Böhmermann, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und die Journalistin Anja Reschke.

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Der mutmaßliche Verfasser machte in seinen Schreiben nicht nur klar, dass er mit den Verbrechen der neonazistischen Terrorvereinigung NSU sympathisiert, die von 2000 bis 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete. Die 116 Drohbriefe, die die Ermittler M. zuschreiben, enthielten neben rassistischen Beleidigungen konkrete Mord- und Bombendrohungen, teils als Todesurteile formuliert.

Noch brisanter macht den Fall „NSU 2.0“, dass in den Schreiben vielfach die geschützten Daten und Wohnanschriften der Adressaten genannt wurden.

Bei Durchsuchungen flog eine rechte Chatgruppe von Polizisten auf

Im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass genau diese Adressen zuvor ausgerechnet in Polizeidienststellen in Frankfurt, Wiesbaden, Hamburg und Berlin abgefragt worden waren - ohne einen dienstlichen Anlass. Der Verdacht fiel also zunächst auf die Reihen der Polizei, die womöglich hinter den Drohschreiben stecken könnte.

Bei entsprechenden Durchsuchungen flog tatsächlich eine rechte Chatgruppe von Beamten des ersten Frankfurter Polizeireviers auf. Die Polizisten sind bis auf weiteres vom Dienst suspendiert. Am 14. Juli 2020 trat Hessens Polizeipräsident Udo Münch zurück. Eine Anklage gegen rechtsextreme Beamte gibt es jedoch bis heute nicht. Weiterhin ist unklar, wie die Daten aus den Polizeirechnern ihren Weg zum Angeklagten M. fanden. „Ich habe irgendwann aufgehört, die Morddrohungen zu zählen“, berichtet Janine Wissler, Bundesvorsitzende der Partei Die Linke, die zu den insgesamt 24 Empfängerinnen und Empfängern der NSU 2.0-Briefe gehört und im Prozess als Zeugin aussagen wird. „Der Angeklagte muss Unterstützer bei der Polizei gehabt haben“, ist Wissler überzeugt.

Die These, es handle sich bei Alexander M. um einen Einzeltäter, halte sie für vollkommen abwegig: „Niemand kann mir erzählen, dass er sich am Telefon als Polizistenkollege ausgibt und damit ganz einfach in fünf verschiedenen Polizeirevieren umfangreiche Daten mitgeteilt bekommt.“
Gleiches denkt die Anwältin Seda Basay-Yildiz, die am 2. August 2018 den allerersten NSU 2.0-Drohbrief per Fax erhielt. Zweifellos, weil sie im NSU-Prozess die Familie von Enver Simsek vertreten hatte, dem ersten Mordopfer der Terrorgruppe, und damit offensichtlich zum Feindbild von Rechtsextremisten wurde.

"Wir reißen dir den Kopf ab"

Oberstaatsanwalt Sinan Akdogan trägt in seiner 124 Seiten umfassenden Anklageschrift knapp drei Stunden lang Wort für Wort vor, was die Opfer des NSU 2.0 per E-Mail, Fax oder SMS erreichte. Alexander M. soll demnach Seda Basay-Yildiz geschrieben haben: „Wir reißen dir den Kopf ab, miese Türkensau, verpiss dich solange du hier noch lebend rauskommst. Wenn der Tag X kommt und die Stunde null, dann helfen dir keine Bullen mehr.“ Alexander M. verfolgt den Vortrag der Staatsanwaltschaft weitgehend regungslos, manchmal zupft er an seiner weißen Corona-Schutzmaske, dann blättert er in einem Strafgesetzbuch, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Basay-Yildiz ist beim Prozessauftakt nicht im Gericht. Sie hat die meisten Drohbriefe erhalten und tritt wie die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner als Nebenklägerin auf. „Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des Angeklagten nicht aufgeklärt“, betonte Basay-Yildiz kurz vor Prozessbeginn. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel sagte sie am Dienstag, ihr Vertrauen in die Frankfurter Polizei sei „zerrüttet“.

Alexander M. stellte sich mit Waffe den Polizisten in den Weg

Als am 3. Mai 2021 ein Spezialeinsatzkommando der Polizei die Wohnung von Alexander M. im Berliner Stadtviertel Wedding stürmt, stellt dieser sich den Polizisten mit einer Pistole bewaffnet in den Weg. Erst als sie ihn das dritte Mal auffordern, die Waffe wegzulegen, ergibt sich M. schließlich. Die Ermittler stellen drei Computer sicher, auf denen sich neben Beweisen für die Drohschreiben auch kinder- und jugendpornografische Dateien befinden.

Auf die Spur von M. war die Frankfurter Staatsanwaltschaft mithilfe von IT-Experten und Sprachwissenschaftlern des hessischen Landeskriminalamts gekommen. Denn M. hatte seine Spuren stets gut verschleiert, für seine Drohschreiben oft ausländische Server genutzt oder Online-Kontaktformulare. Am Ende führte offenbar ein Benutzerprofil auf einer Schachplattform zum Täter. Das Profil glich einem Account auf der rechtspopulistischen Plattform „PI-News“, unter dem Kommentare veröffentlicht wurden, die starke Parallelen zu den NSU-2.0-Schreiben zeigten. Ob der arbeitslose Alexander M. tatsächlich als Einzeltäter agierte, oder ob er Helfer in den Reihen der Polizei hatte, könnte sich früh im Prozess herausstellen. „Das kann ich nicht unkommentiert stehenlassen“, sagt er, nachdem die Anklageschrift verlesen ist. Er wolle sich umfangreich zu den Vorwürfen einlassen, habe dafür ein entsprechendes Schriftstück vorbereitet. „Ich bin hochmotiviert.“ Dann bremst ihn jedoch sein Verteidiger Ulrich Baumann und kündigt die Stellungnahme für den zweiten Verhandlungstag an.

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