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Die alevitische Gemeinde Berlin hat zu einer Solidaritätskundgebung vor der türkischen Botschaft gerufen - und viele sind gekommen.

© dpa

Proteste in der Türkei: Die Aleviten sind ganz vorne dabei

Die eher liberalen Aleviten haben sich mit der Staatsmacht in der Türkei immer schwer getan. Deshalb unterstützen sie nun auch die Proteste gegen die Politik des Premiers Recep Tayyip Erdogan.

Wenn es um Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan geht, dann sind die Aleviten in diesen Tagen mit Sicherheit an vorderster Front. „Wir wollen eine zeitgemäße Türkei, in der Menschenrechte auch ihren Namen wert sind“, betont Yesim Eraslan, Vorstandsmitglied der Alevitischen Gemeinde Deutschland in Köln.

Mit einer Mahnwache etwa solidarisiert sich der Dachverband vieler alevitischer Einzelvereine mit den Protestierenden in der Türkei. Seit Mittwoch hat sie in der Innenstadt von Köln ein Zelt aufgestellt. Einige Ortsvereine und Regionalverbände haben sich nach Angaben von Eraslan bundesweit der Aktion angeschlossen.

In Berlin etwa haben alevitische Vereine gemeinsam mit anderen Gruppen für den kommenden Sonntag zu einer Großdemonstration aufgerufen. Bereits am vergangenen Donnerstag hat die Alevitische Gemeinde zu Berlin „für Demokratie, Menschenrechte und gegen Faschismus“, wie sie auf ihrer Webseite schreibt, eine Kundgebung veranstaltet. Etwa 200 bis 300 Menschen kamen nach Angaben des Vereinsmitglieds Hüseyin Yapici vor die Türkische Botschaft. Der Dachverband in Köln hat bereits am vergangenen Samstag eine Demo mit etwa 5000 Menschen organisiert.

Im Widerstand gegen jedes Regime

Proteste und Widerstand gegen herrschende Regime in der Türkei haben Tradition unter Aleviten. Früher richteten sich ihre Aufstände gegen osmanische Herrscher, die die religiöse Minderheit jahrhundertelang unterdrückt und verfolgt haben.

Ausgerechnet nach Yavuz Sultan Selim, dem „grausamen Sultan“ wie er auch genannt wird, soll eine dritte neu im Bau befindliche Brücke benannt werden. Der Name des Megaprojekts der Regierung Erdogan löst zu Recht Unbehagen bei den Aleviten aus. Denn Yavuz Sultan Selim massakrierte Anfang des 15. Jahrhunderts verschiedenen Angaben zufolge 40 000 bis 70 000 Aleviten. Zu sehr war die - je nach Auslegung - teils schiitisch, in jedem Fall aber heterodox ausgerichtete Religionsgemeinschaft den orthodox-sunnitischen Herrschern damals ein Dorn im Auge. Zu sehr war sie auch machtpolitischer Spielball zwischen den verfeindeten Parteien - dem schiitisch ausgerichteten persischen Reich und den Osmanen. Denn Aleviten erhofften sich damals von den herrschenden persischen Safawiten Schutz vor ihren osmanischen Peinigern.

Erdogan und seine AKP hegen große Sympathien für die osmanischen Herrscher. Das brachte der Ministerpräsident bei der Einweihung der dritten Brücke noch einmal zum Ausdruck. Symbolträchtig ist mit dem 29. Mai der Eröffnungstag: Die Eroberung Istanbuls durch den osmanischen Herrscher, Mehmet der Eroberer im Jahre 1453.

Aleviten fürchten eine Islamisierung der Türkei

„Das harte Vorgehen der Regierung gegen Demonstranten hat für uns Aleviten das Fass zum Überlaufen gebracht“, beteuert Eraslan. „Die Prozesse um das Massaker in Sivas sind verjährt. Die Täter aber sind immer noch auf freiem Fuß.“ Zur Erinnerung: 1993 kamen in Sivas bei einem pogromartigen Angriff eines aufgebrachten Mobs viele Aleviten um. „Die Verjährung bezeichnete Erdogan als ein Segen.“ Eraslan hat für die Entwicklungen in der Türkei auch einen Namen: „Islamisierung.“ Die Anzeichen dafür  seien beispielsweise das Alkoholverbot oder die Tatsache, dass Paare in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten nicht mehr austauschen dürfen. Aleviten gelten als liberal. Die alevitische Weltanschauung verbietet den Genuss von Alkohol nicht.

Viele Aleviten fühlen sich dem Laizismus verpflichtet, da dieser eine Befreiung vor der Unterdrückung der sunnitischen Mehrheit verheißt. Dass diese Verheißung auch in der laizistischen Türkei nicht wirklich eingetroffen ist, zeigen mehrere Massaker jüngeren Datums wie jenes in Sivas, also nach Gründung der laizistischen Republik Türkei.

Erdogan hat vor ungefähr drei Jahren bei seinem Deutschlandbesuch Assimilierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. „Das gleiche macht er aber mit den Aleviten in der Türkei.“ Gemeint ist unter anderem die Tatsache, dass nach wie vor in der Republik Moscheen in alevitischen Dörfern gebaut werden – wie selbstverständlich auch mit den Steuergeldern der Aleviten. Allerdings gehen religiöse Aleviten in keine Moschee.

Syriens Alawiten haben mit den türkischen Aleviten nichts zu tun

Aus alevitischer Perspektive ließe sich also auch von „Sunnitisierung“ sprechen, halten doch die Repressionen gegen Aleviten unvermindert an. Ein Abgeordneter der Oppositionspartei hat neulich eine Anklagewelle gegen 700 Offiziere der türkischen Luftstreitkräfte angeprangert. Als Gründe werden „Glücksspielsucht“, „unerlaubte Aktivitäten bei Facebook“ und „unmoralisches Verhalten“ genannt. Alle 700 Offiziere seien Aleviten, so der Abgeordnete Atilla Kart in der türkischen Zeitung Radikal Mitte letzten Monats. Hinter den  Anklagen würden sich konfessionelle Gründe verbergen. Derzeit fände eine regelrechte „Neutralisierung“ in der Armee statt. Die Anschuldigungen und Anklagen richteten sich nicht allein gegen Individuen, sondern gegen ganze Kollektive.

Ob sich ein Stück weit die Geschichte wiederholt, wird sich besonders im Konflikt der türkischen Regierung mit dem alawitischen Assad-Regime zeigen. Die Alawiten  haben mit den Aleviten in Sachen Religion außer der teils schiitischen Ausrichtung und dem ähnlich klingenden Namen keine sonstigen Gemeinsamkeiten. Der Alevitismus ist auf eine Mischung aus schamanistischen Elementen zentralasiatischer Turkstämme, mystischen sowie schiitischen Einwirkungen zurückzuführen. Die Alawiten haben als Ahnherren Muhamad ibn Nusair. Ihre Tradition hat im Irak ihren Ursprung. In der Türkei werden sie fälschlicherweise als „arabische Aleviten“ bezeichnet. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Konflikt auch auf die Aleviten in der Türkei auswirken wird.

Hülya Gürler

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