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Konfrontation. In der Hauptstadt Sarajevo und vielen anderen Orten des Landes kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und schweren Verwüstungen.

© dpa

Proteste in Bosnien: Front gegen den Staat

In Bosnien eskalieren die Proteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Die Demonstranten haben in Sarajewo und Tuzla Regierungsgebäude gestürmt - und angezündet.

Die junge Frau hat genug. „Wir überleben hier, aber ich will nicht nur überleben, ich will leben“, sagt Irma Alemanovic und streicht ihre Locken nach hinten. Die 28-Jährige hat keinen Job und ist von ihren Eltern abhängig. „Ich kann ja auch keine Erfahrungen sammeln, um einen zu bekommen.“ Wie Alemanovic, die zum Regierungsgebäude des Kantons Sarajevo gekommen ist, haben am Freitag zehntausende verarmte Bosnier gegen die Politiker ihres Landes demonstriert, denen sie Unfähigkeit und Korruption vorwerfen. Teilweise gewaltsame Proteste gab es auch in Zenica, Bugojno, Cazin, Bihac und in vielen weiteren Städten. „In diesem Land ereignet sich ein Tsunami der bestohlenen Bürger“, sagte Innenminister Fahrudin Radoncic in Sarajevo.

Irma Alemanovic zuckt plötzlich zusammen. Die ersten Schüsse aus den Schreckschusspistolen der Polizisten sind gefallen. „Sorry, aber das erinnert mich sofort an den Krieg“, sagt die 28-Jährige und fängt an zu laufen. Plötzlich rennt die ganz Menge. Fette Steinbrocken fliegen über die Köpfe der Demonstranten auf die gepanzerten Beamten zu. Diese rücken vor und sichern so den Park vor dem Regierungsgebäude des Kantons Sarajevo ab. Der Fernsehsender Federealna berichtet, in einem Gebäude der Regionalregierung von Sarajevo hätten aufgebrachte Demonstranten alle Fenster eingeschlagen.

Flucht vor dem Steineregen

Viele Demonstranten sind mittlerweile vor dem Steineregen auf die anderen Seite des Flüsschens Miljacka geflohen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Regierungsgebäude in Tuzla, wo die Proteste begannen, schon gestürmt. Schätzungsweise 10 000 Menschen demonstrieren dort, das Gebäude der regionalen Regierung wird angezündet. Die Polizei in der ehemaligen Industriestadt in Zentralbosnien hat aus Überforderung das Feld geräumt.

Demonstranten werfen Computer und Sessel aus dem Fenster. Tausende applaudieren den Aktivisten. Aus dem bosnischen Frühlingserwachen ist ein heftiges Gewitter geworden. Einer der Anführer des Protests in Tuzla, Aldin Siranovic, forderte in einer Rede an die Menge den Rücktritt der Regierung: „Sie bestehlen uns seit 25 Jahren und zerstören unsere Zukunft.“

Die Proteste begannen nicht ohne Grund am Mittwoch in Tuzla. Dort gibt es weniger Staatsdiener als in Sarajevo und in Banja Luka, die über sichere Einkommen verfügen. Die ehemals stolze Industriestadt ist heute eine Stadt der Arbeitslosen, Gedemütigten und Wütenden. Ein Ort, wo sich eine bisher unbekannte Armut zeigt. Und wo man umso zorniger wird, wenn Beamte der Kantonsregierung hunderte Euro an Zulagen dafür bekommen, dass sie 50 Kilometer weiter weg wohnen. Seit Monaten haben die entlassenen Arbeiter in Tuzla jeden Mittwoch vor der Kantonsregierung protestiert. Bisher hat sie niemand gehört. Doch dieser Mittwoch war anders. Vor allem Studenten solidarisierten sich mit den Arbeitern. Der Bosnische Frühling bekam Zulauf.

Gemischtes Publikum

Auch in Sarajevo ist das Demonstranten-Publikum sehr gemischt. „Was steht ihr da so rum? Lass uns das Gebäude stürmen!“, schreit ein junger Mann in meerblauen Trainingshosen mit lauter Stimme und winkt andere Jugendliche herbei. Es sind junge Männer, die sich ihre Sweaters bis zur Nase hochziehen, um nicht erkannt zu werden. Einige haben in den Taschen ihrer Jacken Pflastersteine versteckt. Ein junger Mann wird von Freunden weggetragen, aus seiner Kopfwunde tropft Blut. Wenig später wird auch in Sarajevo der Sitz der Regionalverwaltung gestürmt. Das Gebäude war da bereits evakuiert.

In Tuzla geht es um fünf große Unternehmen (etwa die Waschmittelfabrik Dita), die sich in Konkurs befinden, was zu Massenentlassungen führte. Die ehemaligen Arbeiter haben seit vielen Monaten keinen Lohn gesehen, hoffen aber noch immer, dass die Regionalregierung ihre Arbeitsstellen rettet. „Die Privatisierungen in Bosnien waren von einer Reihe von Fehlern begleitet. Die Unternehmen wurden billig verkauft und dann von den neuen Investoren fallen gelassen, wenn diese die Ausstattungen verkauft haben“, erklärt Vesna Malenica von der Nichtregierungsorganisation Populari. „Die Arbeiter von Dita haben seit 26 Monaten keinen Lohn mehr bekommen.“ Weil auch die versprochenen Sozialleistungen ausbleiben, haben tausende Familien überhaupt keine Einkommen mehr. „Als Resultat der Privatisierungen sind 500 000 Arbeiter ohne Job, und 100 000 haben keine Pensionsregelung“, sagt Malenica.

Bosnischer Frühling

Mirha Pjanic hat „Bosnischer Frühling“ auf ihr Plakat gemalt. Die Medizinstudentin kommt aus Tuzla. „Es ist das wenigste, was ich tun kann, dass ich für diese Leute auf die Straße gehe“, sagt sie. „Die Politiker sollten wenigstens mit uns reden, uns zuhören.“ Die Arbeitslosenquote in Bosnien liegt bei mehr als 44 Prozent. Nach amtlichen Angaben lebt ein Fünftel der 3,8 Millionen Bosnier in Armut, viele leiden Hunger. Der durchschnittliche Monatslohn liegt bei 420 Euro.

Am Freitag ist es außergewöhnlich warm in Sarajevo. Die Straßencafés sind voll, die Sessel alle Richtung Sonne gerichtet. Das Grün der Berge rund um die Stadt hebt sich erstmals dieses Jahr so richtig vom blauen Himmel ab. Man könnte sicher die Singvögel hören, wenn da nicht die Sirenen wären. Die Demonstranten skandieren im Sprechchor: „Wir haben nur ein Land und das ist Bosnien. Und wir lieben Bosnien.“

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