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Das Coronavirus bremst die Proteste in Hongkong aus – und schürt neue Konflikte.

© Philip Fong/AFP

Protest unter Quarantäne: Wie sich das Coronavirus auf den Protest in Hongkong auswirkt

Blaue Geschäfte werden boykottiert, gelbe unterstützt: Hongkongs Proteste verlagern sich wegen des Coronavirus von der Straße in die Wirtschaft.

Von Weitem mag es aussehen, als sei alles wieder normal. „Aber nichts ist mehr normal“, sagt er. Ganz und gar nicht.

Die Proteste in Hongkong, deren Bilder brennender Barrikaden und prügelnder Polizisten im vergangenen halben Jahr beinahe wöchentlich um die Welt gingen, sind leiser geworden – und seltener zu sehen. Fort sind sie nicht, sie haben sich nur verlagert. Kelvin nennt seinen echten Namen lieber nicht.

Es ist Ende Januar, der letzte Abend des chinesischen Neujahrsfestes, und der 22-Jährige ist unterwegs zu Verwandten. Die Telefonverbindung über Skype ist kratzig, „ich bin in der U-Bahn“, sagt Kelvin dumpf wie durch Watte. Aber wenn er Zeit zum Telefonieren hat, dann sonntags, dann jetzt.

Er trägt wieder eine Maske. Aber keine schwere, industrielle, gegen Tränengasnebel, sondern eine leichte – gegen das Coronavirus, das seinen Weg nach Hongkong gefunden hat. Einen Tag zuvor hat die Regierungschefin Carrie Lam den Ausnahmezustand ausgerufen. Das örtliche Disneyland schließt, Fotos zeigen öffentliche Plätze leer und verlassen, Demonstrationen wird es vorerst keine geben. Am Montag aber streikt Klinikpersonal, Ärzte und Krankenschwestern drohen, dies ebenfalls zu tun – sollte die Regierung nicht zustimmen, Hongkong für Besucher aus Festland-China komplett abzuriegeln. Bislang sind 10 von 13 Grenzübergängen geschlossen, in 15 Fällen wurde eine Infektion mit dem Coronavirus bestätigt.

Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat den Notstand ausgerufen.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat den Notstand ausgerufen.

© Siu/Reuters

Eigentlich hätten die Schüler der Stadt nach dem Ende der Neujahrsferien am Montag wieder in den Unterricht zurückkehren sollen. Am Freitag verkündete Lam allerdings, dass die Schulen wegen der Ansteckungsgefahr bis mindestens 2. März geschlossen bleiben.

Kein Vertrauen mehr in die Politik

„Die Stadt ist in Panik“, sagt Kelvin. Allein deswegen ist schon nichts mehr normal. Aber darum geht es ihm jetzt nicht.

2020 werde alles anders werden, hatte der Hongkonger Verwaltungschef Matthew Cheung noch im Dezember versprochen. Er redete von Neuanfang, von einer Kommission, die untersuchen solle, warum die Hongkonger protestierten. Kelvin lacht bitter. Er hat schon lange kein Vertrauen mehr in die Politik.

Einmal in der Woche etwa sei er zuletzt demonstrieren gegangen, sagt Kelvin. Und natürlich gebe es auch immer wieder brutale Szenen, nach wie vor gehe die Polizei gewalttätig vor. Aber der wahre Protest spiele sich nicht mehr auf der Straße ab, sondern auf wirtschaftlicher Ebene.

In den vergangenen Monaten hat sich etwas entwickelt, das die Demonstranten „yellow economy“ nennen, gelbe Wirtschaft. In einer ständig wachsenden Art Onlineregistratur werden Geschäfte, Restaurants, sogar Fitnessstudios als entweder gelb oder blau bezeichnet. Gelb bedeutet: demokratiefreundlich. Blau: pekingfreundlich. „Ich bin rigoros“, sagt Kelvin, „ich gebe keinen Penny bei jenen aus, die den Protesten kaltblütig gegenüberstehen.“ Es funktioniere ganz gut, sagt er, die blauen Geschäfte bekämen erste Probleme.

Niederschwellige Form des Protests

Es ist der hingenommene Kollateralschaden einer Revolution, dass so auch einfache Angestellte getroffen sein können – deren Verträge gekündigt werden. Das sei geschehen, heißt es.

Im Detail lässt sich das nicht nachprüfen. Doch es scheint klar zu sein, dass die Wirtschaft Hongkongs – immerhin ein für China wichtiger Finanz- und Handelsplatz – unter den Protesten gelitten hat.

Regierungschefin Carrie Lam warnt beständig vor schlechten Zahlen und beschließt wieder und wieder finanzielle Hilfen für Unternehmen. Doch falls dies den Demonstranten Angst machen sollte, funktioniert es nicht. Wenn wirtschaftlicher Druck auf die Pekinger Regierung nicht wirkt, was denn dann? Kelvin sagt: „Wie du dein Geld ausgibst, ist wie eine Stimmabgabe bei einer Wahl.“

Zugleich ist es eine extrem niederschwellige Form des Protests. Jeder kann mitmachen, ohne sich in Gefahr zu bringen. Längst ist Konsum politisch geworden. Wir sind, was wir kaufen: fair, bio – oder demokratisch. Es passt zu dieser vermeintlich ausgebremsten Protestbewegung, dass sich aus den Untiefen ihrer kreativen Masse gleich die nächste dynamische Strategie entwickelte.

„Sei Wasser, mein Freund“ – ein halbes Jahr lang war dieses Zitat von Bruce Lee das Motto der Demonstrierenden in Hongkong gewesen. Anfang Juni 2019 waren Hunderttausende zum ersten Mal auf die Straße gegangen, um gegen eine Gesetzesänderung zu protestieren, die es erlauben würde, Verdächtige und Straftäter unkompliziert an China auszuliefern. Kelvin war dabei – auch als Hongkonger Polizisten zum ersten Mal massiv gegen Demonstranten vorgingen, am 12. Juni. Es war ein früher Wendepunkt, nach dem sich der zunächst friedliche Protest radikal veränderte. Beide Seiten rüsteten auf: die Polizei mit noch mehr Tränengas, Gummigeschossen, Wasserwerfern und Knüppeln; die meist jungen Demonstranten mit Molotowcocktails und professioneller Ausrüstung. Straßen wurden zu Schlachtfeldern, in mehreren Stadtteilen zur gleichen Zeit, wöchentlich.

Damals war er den Tränen nah

Sei Wasser, mein Freund: Über Social Media waren die schwarz gekleideten, zu allem bereiten Demonstranten flink verabredet. Carrie Lam zog die angekündigte Gesetzesänderung zurück, doch da ging es für die Protestierenden längst um mehr – um ihre Zukunft. Um die Rechte und Freiheiten, die sie als Bewohner der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong haben und behalten wollen. Presse- und Meinungsfreiheit zum Beispiel, Zivilgesellschaft. Es ging gegen die autoritäre chinesische Regierung und ihren Einfluss, von dem befürchtet wurde, er könne wachsen. Eine der Hauptforderungen der Demonstranten waren und sind demokratische Wahlen.

Im vergangenen November eskalierten die Proteste in Hongkong endgültig.
Im vergangenen November eskalierten die Proteste in Hongkong endgültig.

© Ye Aung Thu / AFP

„Ich hab’ so eine Angst, dass wir verlieren“, sagte Kelvin vor einem knappen Vierteljahr im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Und es sah ja alles danach aus. Damals war er den Tränen nah, hatte sein Jurastudium unterbrochen, um sich ganz den Protesten widmen zu können. Schmal und blass saß er in der Küche seiner Eltern und blickte in die Kamera seines Laptops vor ihm. Über Whatsapp riss der Kontakt mit ihm nie ab.

Die Schlacht um die Polytechnische Hochschule in Hongkong Ende November war der bisherige Höhepunkt des Protestes, die Nachbeben kommen nun langsam bei den Beteiligten an. Wessen Personalien aufgenommen wurden, der bekommt jetzt möglicherweise eine Nachricht von der Polizei. So erzählt es eine junge Frau, die Ersthelferin während der Proteste war. Einer ihrer Kollegen sei nun informiert worden, dass er angeklagt werde: wegen Randale. Im schlimmsten Fall bedeutet das zehn Jahre Gefängnis.

7000 Menschen wurden verhaftet

Kelvin hat nicht mehr Hoffnung als damals und klingt doch zuversichtlicher. Unter der Woche arbeitet er in einer Anwaltskanzlei. Als Assistent kümmert er sich um Fälle junger Demonstranten, die wegen Waffenbesitzes verurteilt werden sollen. Stundenlang schaut er sich Aufnahmen von Überwachungskameras an, um genau sagen zu können, was wann wie in einer Auseinandersetzung mit der Polizei geschah. Er sagt, er sei froh, diese Arbeit tun zu können, selbst wenn es nicht immer gerecht zugehe. Weil manche Richter Verfahren beschleunigten, um die Leute schnell verurteilen zu können; weil viele sich im Zweifel immer für das härtere Urteil entschieden. „Letzte Woche“, sagt er, „wurde eine 23-Jährige zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie einem Demonstranten half, Molotowcocktails zu tragen.“

Die Schlacht um die Polytechnischen Universität in Hongkong war der traurige Höhepunkt der Proteste.
Die Schlacht um die Polytechnischen Universität in Hongkong war der traurige Höhepunkt der Proteste.

© dpa

Die Nachrichtenagentur Reuters schrieb kürzlich von rund 7000 Menschen, die während der sieben Monate andauernden Proteste verhaftet wurden. Nach Angaben von Polizeichef Chris Tang seien davon 1092 verurteilt worden. Die meisten der vom 9. Juni bis zum 14. November 2019 Festgenommenen waren laut Reuters zwischen 21 und 25 Jahre alt, der Großteil von ihnen ist männlich.

Ein halbes Jahr Proteste haben nicht nur die Stadt zweigeteilt in Befürworter und Gegner Pekings, sondern auch Familien zerrissen. Der Konflikt ist auch einer zwischen Generationen, die Jugend denkt gelb, die Großeltern blau.

So ist es zum Beispiel bei der 23-jährigen Dawn. Seit einem ersten Gespräch über Skype im Oktober blieb der Kontakt zu ihr bestehen. Auch sie nennt ihren echten Namen aus Angst vor Verfolgung lieber nicht. Schon seit Monaten vermeidet sie die Konfrontation mit Verwandten, die dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping die Treue halten. Wie ihr über 80-jähriger Großvater. Erst Verwandtschaft aus Festland-China schaffte es, ihm seine Reisepläne für das Neujahrsfest auszureden. Bis dahin glaubte er, die Kommunistische Partei habe den Ausbruch des Coronavirus unter Kontrolle und ihm drohe keine Gefahr.

Listen „erlaubter“ Läden

Auch Dawn hat zu Neujahr ihre erweiterte Familie besucht. Weil die Verwandtschaft das gemeinsame Essen bei einem blauen Restaurant bestellte, orderten sie und ihre Cousine zusätzlich bei einem gelben. Der erwartete Eklat blieb aus – weil ausnahmsweise alle über das Coronavirus sprachen und nicht über Politik.

Den Eltern sendet sie regelmäßig aktualisierte Listen „erlaubter“ Läden. Manchmal, sagt sie, hielten die sich daran. Für sie selbst ist das, so wie auch für Kelvin, keine Frage. „Ich habe es mir angewöhnt, nachzusehen, bevor ich einen Laden betrete.“ Wobei die gelben auch ohne App zu erkennen seien, sagt sie und lacht: an den Schlangen vor den Türen!

Per Whatsapp schickt Dawn Links zu den Apps und Karten, die sie nutzt, einige haben das Kantonesisch rudimentär in Englisch oder sogar Deutsch übersetzt. Unter neoguidehk.com zum Beispiel ist eine Stadtkarte übersät mit gelben, blauen und einigen roten Punkten – Achtung: festlandchinesisches Kapital! – zu sehen. Ein McDonald’s im Bezirk Pok Fu Lam ist blau gekennzeichnet, ein Fenster mit Begründungen öffnet sich nach einem Klick. Darunter jene: Am 25. August 2019 wurden dort Gutscheine an Polizisten ausgegeben. Das Restaurant Meat Pie Gor in Tai Wai hingegen ist gelb. Die Besitzer haben sich mehrfach auf die Seite der Demonstranten gestellt. Verlinkt sind Facebook-Posts, die das beweisen.

Eine wichtige Frage: Hast du genug getan?

Oder Sogno Gelato, der mittlerweile schon berühmte Eisladen in einer Shoppingmall in Tsuen Wan, der keine Polizisten (oder ihre Unterstützer) bedient; der als Form des Protests laut „New York Times“ Ende des Jahres eine eigene Kreation verkaufte, Geschmacksrichtung Tränengas – mit schwarzem Pfeffer.

Nach welchen Standards die Läden bewertet werden, ist in der Hongkonger Schwarmintelligenz eine andauernde Diskussion. Hat sich der Besitzer regierungsfreundlich geäußert? Sind die Unternehmer nachweislich pro Peking? Reicht es, ein demokratiefreundliches Poster im Fenster hängen zu haben? Oder sollten die Mitarbeiter für Demos freigestellt worden sein?

Hast du genug getan? Es ist eine Frage, die sich alle Gesprächspartner stellen. Andererseits war es schon lange nicht mehr so leicht, Teil einer Revolution zu sein, wenn das bloß bedeutet, den Kaffee im richtigen Café zu kaufen.

Dawn erzählt von Leuten, die von Polizisten zusammengeschlagen wurden, als sie bunte Post-its mit Wünschen und Forderungen an die sogenannten Lennon-Walls klebten, die überall in Hongkong an Gebäuden, Unter- und Überführungen und Geschäftsfassaden entstanden. Schon 2014, bei der Regenschirmbewegung hatte es die gegeben. Ihr Vorbild steht in Prag, wo eine Wand als Ausdruck des Protests gegen das kommunistische Regime seit den 60er Jahren mit Graffiti und Sprüchen bemalt wurde. Nach der Ermordung John Lennons 1980 zeichnete ein Künstler das Gesicht des Musikers dazu. „Wir wissen nicht, was uns passieren kann, wenn wir unsere Meinung öffentlich äußern“, sagt Dawn. „In der gelben Wirtschaft können wir uns frei und sicher fühlen.“

Auswandern? Die Idee wird konkret

Dawn hat noch bis Mitte Januar als Sozialarbeiterin gearbeitet, ihr Bereich war etwas, das man in Deutschland wohl aufsuchende Jugendhilfe nennen würde. Nacht für Nacht war sie unterwegs zu obdachlosen Jugendlichen, zu Ausreißern und Drogenabhängigen. Je intensiver die Proteste wurden, desto häufiger dienten sie und ihr Team mit Minivan auch als Revolutionstaxi. Schnell brachten sie die jungen Demonstranten aus der Gefahrenzone oder nach Hause, als irgendwann nach 22 Uhr keine U-Bahn mehr fuhr. Bei einem vorigen Gespräch im Oktober war Dawn verzweifelt und wütend. Was sie erlebte und sah, ließ sie nicht unberührt. Sie bekam Panikattacken und konnte nicht mehr schlafen. Noch heute hat sie Magenprobleme. Dawns Arbeit war nicht ohne Risiko, denn zur Hochzeit der Proteste nahm die Hongkonger Polizei auch Ersthelfer und Sozialarbeiter fest.

„Wir alle haben Angst“, sagte sie damals. „Aber wir haben auch keine Wahl, das hier ist unser Zuhause.“

Bevor sie sich einen neuen Job sucht, wird sie verreisen: zwei Wochen Australien im Februar. Sie wird Freundinnen begleiten, Krankenschwestern, die ihren Urlaub zugleich als Forschungsaufenthalt verstehen. Sie wollen herausfinden, ob sie sich ein Leben in Australien vorstellen könnten. Und ein bisschen will Dawn das auch.

„Wir sind jederzeit bereit, wieder auf die Straße zu gehen“

„Ganz ehrlich“, sagt sie, „in Hongkong möchte ich keine Kinder bekommen, denn ich könnte ihnen kein gutes Leben garantieren, keine Demokratie, keine Freiheit und nicht die Möglichkeit, zu tun, was sie wollen.“ Ihr Freund denke genauso. Wie auch seine Mutter. „Rational glauben wir, dass Auswandern für uns das Beste ist. Nur emotional schaffen wir es noch nicht.“

Auch für Kelvin ist Auswandern eine realistische Option. An den Wochenenden lernt er nun wieder für sein Studium, um mit einem baldigen Abschluss die bestmöglichen Chancen in einem anderen Land zu haben. Seine Eltern, die „gelb“ denken, so wie er, überlegen, nach Taiwan zu ziehen. Bis es so weit sein könnte, werde der tägliche Protest Teil ihres Lebens sein. „Wir warten auf den richtigen Moment, die chinesische Regierung zu überwältigen“, sagt Kelvin. „Wir sind jederzeit bereit, wieder auf die Straße zu gehen.“

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