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Ein Anhänger der AfD in Cottbus.

© Hannibal Hanschke, Reuters

Protest trotz Wohlstand: Sie wählen die AfD, weil es ihnen gut geht

Bisher hieß es: Wer rechts wählt, ist arm oder abgehängt. Aber das stimmt nicht, auch zufriedene Menschen neigen zum rechten Protest. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Alle rätseln: Was ist los im Osten? In Sachsen und Brandenburg liegt die AfD laut Umfragen auf Platz eins, in Thüringen nur knapp hinter der Linkspartei auf Platz zwei. Eine beliebte Erklärung lautet: Vielen Ostdeutschen geht es wirtschaftlich immer noch schlecht, sie empfinden sich als Deutsche zweiter Klasse.

Also muss mehr investiert werden, Geld gegen politisches Wohlverhalten. Das Schema ist bekannt. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ So drohten Demonstranten nach dem Fall der Mauer, und sie hatten Erfolg damit.

Aber vielleicht ist das Gegenteil richtig. Vielleicht wählen viele Ostdeutsche die AfD, weil es ihnen gut geht. Sie leisten sich den Protest, weil sie ökonomisch abgesichert sind.

In Sachsen beurteilen 81 Prozent der Menschen ihre wirtschaftliche Situation als sehr gut bis eher gut. In Thüringen sagen 88 Prozent der Dorfbewohner, sie seien sehr oder eher zufrieden.

Die wichtigsten Themen in diesem Bundesland sind Bildung, Migration und Klimawandel. Die Bereiche Wirtschaft und Arbeit (6 Prozent) sowie Innere Sicherheit und Kriminalität (4 Prozent) rangieren weit hinten. Den meisten Menschen im Osten geht es so gut wie nie nach 1990. Auch die allgemeinen Zufriedenheitswerte sind so hoch wie nie.

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Die gute Stimmung ist ein gesamtdeutsches, auch europäisches Phänomen. Der aktuelle Vermögensbarometer des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes ergab, dass nur 8 Prozent der Deutschen ihre eigene Situation als „schlecht“ oder „eher schlecht“ bewerten. So positiv wie 2018 waren die Werte seit Beginn der Erhebung im Jahr 2001 nicht.

Es sind die SOS-Themen – Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit

Laut Eurobarometer stieg die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem Leben von 73 Prozent im Jahr 2003 auf 93 Prozent im Jahr 2017. In der EU als Ganzes stieg sie von 77 Prozent im Jahr 1997 auf 82 Prozent im Jahr 2017.

Trotzdem werden in fast allen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien immer stärker. Das stellt die gängige Vorstellung auf den Kopf, derzufolge wer rechts wählt, entweder arm ist oder abgehängt, arbeitslos oder in prekärer Beschäftigung. „It’s the economy, stupid“, hatte Bill Clinton geglaubt. „It’s not the economy, stupid“, erwidern die Wähler rechtspopulistischer Parteien.

Der typische AfD-Wähler ist ein Mann jüngeren oder mittleren Alters, er verdient gut und gehört zum eher gehobenen Bildungsdurchschnitt. Ihn treiben vorrangig nicht wirtschaftliche oder soziale Sorgen um, sondern die sogenannten SOS-Themen – Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit.

Er lehnt Zuwanderung ab, neue Familienformen, ist skeptisch gegenüber der Genderforschung und dem Klimawandel. Wirtschaftliche Faktoren spielen für seine Wahlentscheidung kaum eine Rolle. Er orientiert sich eher an immateriellen Begriffen wie Identität, Heimat, Abendland, Gemeinschaft.

Bei der vergangenen Bundestagswahl hat die AfD ausgerechnet in den Regionen stark zugelegt, wo die Arbeitslosigkeit besonders stark gesunken war. In Sachsen etwa, wo die Arbeitslosigkeit um 29,7 Prozent zurückging, verzeichnete die AfD mit 20,3 Prozentpunkten ihren größten Zuwachs. Ein Kommentator der „Welt“ brachte es auf die allgemeine Formel: „Je stärker die Arbeitslosigkeit seit der vorigen Wahl in einem Bundesland gefallen ist, desto größer ist der Zuwachs des AfD-Zweitstimmenanteils.“

Das Phänomen nennt sich „satisfaction paradox“

Woran liegt das? Warum wählen immer zufriedenere Menschen immer öfter rechtspopulistische Parteien? Das Magazin „Economist“ bezeichnete das Phänomen vor wenigen Wochen als „satisfaction paradox“. Offenkundig fühle die weit verbreitete Zufriedenheit der Menschen nicht zum Wunsch nach stabilen Verhältnissen, wie bislang angenommen worden war, sondern im Gegenteil: zum Protest, zur Revolte.

Das allerdings habe historische Vorläufer. Die Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan sei in den Goldenen Zwanzigern auf einem Rekordhoch, der McCarthyismus in den prosperierenden fünfziger Jahren am virulentesten gewesen.

Abschließend geklärt sind die Ursachen des „satisfaction paradox“ nicht. Ein Faktor indes könnte sein, dass Menschen, denen es gut geht, genug Zeit und Energie haben, um sich über Schweinefleischverbote in Kindertagesstätten aufzuregen, über Unisex-Toiletten, die Einführung eines „dritten Geschlechts“ oder das Kopftuch der Kassiererin im Supermarkt.

„Denen geht es zu gut“, hieß es früher über Kinder aus reichen Familien, die Drogen nahmen oder sich Autorennen lieferten, ohne einen Führerschein zu besitzen. Der Begriff dafür lautete „Wohlstandsverwahrlosung". Man sollte Analogien nicht zu weit treiben, aber eine Stimmabgabe für die AfD könnte aus ähnlichen Motiven erfolgen, in Ost wie in West.

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