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Stiller Protest: In Kalkutta demonstrieren Frauen gegen sexuelle Gewalt.

© dpa

Protest gegen Gewalt in Indien: Alle 21 Minuten wird eine Frau vergewaltigt

Vor sieben Monaten löste die Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin Massenproteste in Indien aus. Ein Jugendgericht hat das Urteil gegen den beteiligten Minderjährigen nun vertagt. Doch jeden Tag werden neue Gräueltaten bekannt.

Blicke folgen ihnen, wenn sie durch die Gassen ihres Viertels gehen. Männer weichen zurück. Schon die Farben ihrer Kleider sind ein Tabubruch, eine Provokation in einem Land, wo Frauen sanft, still und gefügig sein sollen und nicht stark, laut und selbstbewusst. Ihre Kurtas, die Hängehemden, sind knallrot, die Hosen und Dupattas, die Schals, die die Brust bedecken, tiefschwarz. „Rot steht für Kampf, Stärke, Schwarz für Protest“, sagt Usha Vishwakarma. Die 25-Jährige ist die Anführerin der Roten Brigaden, wie sich die streitbare Mädchengang aus dem indischen Lucknow nennt. Die jungen Frauen wollen die Straßen zurückerobern und Zeichen gegen die sexuelle Gewalt setzen.

Sieben Monate ist es her, dass die bestialische Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Delhi Massenproteste in Indien auslöste. An diesem Donnerstag wollte ein Jugendgericht das Urteil gegen den beteiligten Minderjährigen verkünden.

Doch das Gericht hat das erste Urteil vertagt. Die Anhörungen seien abgeschlossen, das Urteil werde nun am 25. Juli gesprochen, sagte Generalstaatsanwalt Madhav Khurana beim Verlassen des Gerichtsgebäudes am Donnerstag in Neu Delhi.

Doch kein Tag vergeht, an dem nicht neue Gräueltaten bekannt werden. Alle 21 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt.

Eigentlich ist Usha Lehrerin. Sie lebt in Lucknow, der Millionenmetropole des Bundesstaates Uttar Pradesh. Ihr Viertel Madiyav, ein Slum von Zuwanderern und Entwurzelten, ist ein raues Pflaster. Vergewaltigungen, Übergriffe, Anpöbeleien sind Alltag. Nirgends sind die Mädchen sicher. „Sexuelle Gewalt hat riesige Ausmaße hier“, sagt Usha. Aus Angst verbieten viele Eltern ihren Töchtern sogar, zur Schule zu gehen.

Roten Brigaden nennen sie sich

Auch Usha musste die Gewalt erfahren, als 2007 ein Kollege versuchte, sie zu vergewaltigen. Das Trauma ließ sie nicht los. Seit 2008 unterrichtet sie an einer Nachbarschaftsschule. Dabei erfuhr sie, dass „fast alle meine Schülerinnen Opfer von irgendeiner Form sexueller Belästigung“ sind. „Ich beschloss, gegen diese Geißel zu kämpfen.“ Im November 2010 formte sie die Roten Brigaden.

Mehr als 120 Mädchen sind inzwischen dabei, 15 von ihnen bilden den festen Kern. Die meisten sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. In der Gruppe fühlen sie sich stark und geborgen. Gemeinsam revoltieren sie gegen eine Gesellschaft, die ihre Frauen im Stich lässt und wie Gebrauchsgegenstände behandelt. „Wir wollen eine Vorreiterrolle spielen“, sagt Usha. „Wir glauben, dass sich die Männer ändern müssen.“

Es ziemt sich für Mädchen nicht, die Stimme zu erheben

Sie machen Straßentheater, um die Abtreibung weiblicher Föten anzuprangern. Sie treten der Polizei auf die Füße, indem sie Berichte über Vergewaltigungen sammeln und wie Anklageschriften den Ordnungshütern übergeben. Sie halten Proteste ab und schreien sich die Kehlen heiser. Das fällt auf in einem Land, wo es sich für Mädchen nicht einmal ziemt, die Stimme zu erheben.

Seit einiger Zeit schlagen sie auch zurück. „Khatre Ki Ghanti“, frei übersetzt etwa: Gefahr im Verzug, flüstern Jungen, wenn die Rothemden auftauchen. Ein Karate- und Kung-Fu-Lehrer hat sich bereit erklärt, die Mädchen in Kampfsport und Selbstverteidigung zu unterrichten. Noch sehen viele Schläge ungelenk aus, die meisten Mädchen sind kaum trainiert. Doch umso entschlossener üben sie.

Die Frauen prügeln schon mal

Eine weibliche Bürgerwehr sind die Roten Brigaden nicht, aber ein paar Mal haben sie Missetäter vermöbelt. „Wenn ein Junge oder Mann sich danebenbenimmt, beschweren wir uns erst bei den Eltern, dann bei der Polizei und den Medien. Wenn alles nichts hilft und er weiter Mädchen belästigt, verprügeln wir ihn“, sagt Usha. „Die bösen Jungs haben Angst vor uns.“

Anfangs haben Eltern und Nachbarn das Treiben misstrauisch beäugt. „Sie sagten, ich sei verrückt geworden“, lacht Usha. Doch inzwischen hat sie mehrere Preise erhalten, Journalisten kommen, um über die wehrhafte Mädchentruppe zu berichten. Das erhöht ihren Status im Viertel. Inzwischen wenden sich Menschen sogar hilfesuchend an die Gruppe.

Wie der verzweifelte Vater eines 13-jährigen Vergewaltigungsopfers. Die Polizei scheuchte ihn weg, als er die Tat anzeigen wollte. In seiner Not ging er zu den Roten Brigaden, die bei der Polizei intervenierten. Nun sitzt der Vergewaltiger hinter Gittern. Die Roten Brigaden seien ihre letzte Hoffnung, Gerechtigkeit zu bekommen, sagt der Vater.

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