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Gabriel Boric kandidiert für das Präsidentenamt in Chile. In Südamerika gilt sein Programm als linksradikal.

© AFP

Präsidentenwahl in Chile: Eines der Extreme wählen

Chile wählt am Ende der Woche einen neuen Präsidenten. Wer sind die Kandidaten – und wie polarisiert ist Lateinamerika wirklich?

Wenn die Chilenen am Sonntag einen neuen Präsidenten wählen, steht der rechtsextreme Anwalt José Antonio Kast dem linken ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric gegenüber. Viele bürgerliche Medien in Chile sprechen nun von einem Votum der Extreme. Und auch in deutschen Medien war zu lesen, dass sich zwei „Bewerber von den äußersten Rändern des politischen Spektrums“ gegenüberstünden.

Diese Einschätzung ist vor allem eins: extrem irreführend. Es wäre so, als ob man den AfD-Rechtsaußen Björn Höcke und den ehemaligen Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert als zwei Seiten derselben Medaille bezeichnete. Der 55-jährige Antonio Kast vertritt fremdenfeindliche Positionen und lobt die Militärdiktatur von Augusto Pinochet, unter der mehr als 3000 Chilenen ermordet wurden. Der 35-jährige Boric hingegen wirbt für den Ausbau des Sozialstaats, Klimaschutz und Frauenrechte. Er schlägt vor, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu stärken. Dass er mit diesen sozialdemokratischen Anliegen als linksradikal eingestuft wird, zeigt, wie weit der Diskurs auch in Lateinamerika nach Rechts gerückt ist.

Eine ähnliche Koordinatenverschiebung erlebt Brasilien, das im kommenden Jahr wählt. Der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro wird von Ex-Präsident Lula da Silva herausgefordert. Brasilianische Medien bezeichnen das Duell als „schwierige Wahl zwischen zwei Extremen“. Dabei steht auf der einen Seite mit Bolsonaro ein Mann, der einmal gesagt hat: „Leider wird sich nur etwas ändern, wenn wir (…) eine Aufgabe übernehmen, die das Militärregime nicht erledigt hat: die Ermordung von etwa 30 000 Menschen.“ Auf der anderen Seite bewirbt sich Lula da Silva, dessen Präsidentschaft in den Nullerjahren von einem Wirtschaftsboom und erfolgreichen Sozialprogrammen gekennzeichnet war, allerdings auch von großen Korruptionsskandalen.

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Dass im Grunde sozialdemokratische Ideen in Lateinamerika schnell als extrem gelten, hat damit zu tun, dass sich in vielen Ländern der Region an den kolonialen Machtverhältnissen kaum etwas geändert hat. Während die Masse der Menschen vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen ist, besitzen wenige Familien unfassbar viel Geld, Land, politischen und medialen Einfluss. Nur einige Beispiele: In Brasilien konzentriert ein Prozent der Menschen die Hälfte aller Einkommen, gleichzeitig leben 27 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. In Guatemala sind zwei Drittel der Agrarfläche in der Hand von zwei Prozent der Grundbesitzer.

Das Gespenst des Kommunismus

In Chile konzentriert ein Prozent der Bevölkerung 25 Prozent der Reichtümer. Jeder Versuch, diese Verhältnisse zu ändern, stößt auf den erbitterten Widerstand der weißen Eliten, denen der bürgerliche Gedanke vom Gemeinwohl völlig fremd ist. Sie beschwören stattdessen das Gespenst des Kommunismus.

Dass dies verfängt, hat auch mit den linken Diktaturen in Venezuela, Nicaragua und Kuba zu tun, in denen brutale Sicherheitsapparate jeden Widerspruch im Keim ersticken. Venezuela wurde vom Maduro-Regime wirtschaftlich so ruiniert, dass sechs Millionen Menschen das Land verlassen haben – eine der größten Flüchtlingsbewegungen der Welt. In Nicaragua hat der ExSandinisten-Rebell Daniel Ortega mit seiner Frau eine Art Privatmonarchie errichtet und lässt Oppositionelle einsperren und wenn nötig umbringen.

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Dennoch hat die alte Forderung nach sozialer Gerechtigkeit nicht an Attraktivität verloren. Sie findet Anklang bei einer Unterschicht, die nichts mehr zu verlieren hat und von den Versprechungen der klassischen Parteien enttäuscht ist. Dies zeigte sich im Juli beim überraschenden Wahlsieg des marxistischen Grundschullehrers Pedro Castillo in Peru. Vor wenigen Tagen wurde dann die linke Xiomara Castro mit großer Mehrheit zur neuen Präsidentin von Honduras gewählt. Sie ist die Ehefrau von Ex-Präsident Manuel Zelaya, der 2009 durch einen Militärputsch rechter Kräfte gestürzt wurde.

Und noch ein Phänomen ist in Lateinamerika zu beobachten: der Aufstieg rechter Populisten auf Kosten traditioneller konservativer Parteien. In Chile ließ der rechtsextreme Anwalt José Antonio Kast dem Kandidaten der Rechtskonservativen, Sebastián Sichel, keine Chance.

Schrilles Auftreten

In Argentinien sorgte der rechtsliberale Ökonom und Radiomoderator Javier Milei für Furore. Wie Kast stammt er nicht aus dem traditionellen politischen Milieu und wirkt mit Pilzkopf und schrillem Auftreten eher wie ein Popstar. Er eroberte bei den jüngsten Parlamentswahlen auf Anhieb einen Sitz mit Sprüchen wie: „Steuern sind Raub.“ Milei könnte 2023 als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat ins Rennen gehen. Wie Kast und Bolsonaro ist er ein Trump-Fan.

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Zur Riege der Populisten zählt auch El Salvadors Präsident Nayib Bukele. Der 40-Jährige entmachtete das Parlament und besetzte das Verfassungsgericht neu, damit es ihm die Möglichkeit zur Wiederwahl einräumt. Durch seinen militaristischen „Plan zur Territorialen Kontrolle“ gelang es ihm, die hohe Mordrate zu reduzieren, aber Kritiker sagen, dass er dies nur durch Geheimverhandlungen mit Verbrecherbanden erreichte.

Bei alldem wird deutlich, wie stark die Länder Lateinamerikas den Launen einzelner Figuren ausgesetzt sind. Die derzeitige Polarisierung zwischen Rechts und Links fiele weniger drastisch aus, wenn es mehr starke Parlamente gäbe, die die heterogenen Gesellschaften repräsentierten. Stattdessen führen die Präsidialsysteme immer wieder dazu, dass einzelne Figuren versuchen, Aufmerksamkeit mit extremen Positionen zu erreichen. Dies gelingt Lateinamerikas Rechter besonders gut.

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