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Tausende Tunesier demonstrierten am Wochenende gegen den Staatschef.

© Anis Mili/AFP

Präsident sichert sich Kontrolle über Justiz: Ist Tunesien auf dem Weg zur Autokratie?

Trotz heftiger Proteste hat Präsident Kais Saied Tunesiens Obersten Justizrat entmachtet - nicht sein erster Eingriff in den Staat.

Die Proteste werden immer größer – doch Tunesiens Präsident Kais Saied baut seine Herrschaft weiter aus. Per Dekret sicherte er sich jetzt die Kontrolle über das oberste Aufsichtsgremium der Justiz, nachdem er im vorigen Sommer bereits Regierung und Parlament entmachtet hatte.

In der Hauptstadt Tunis demonstrierten am Wochenende Tausende gegen den Staatschef, aber das dürfte Saied nicht beeindrucken: Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, wird zur Autokratie.

Saied, ein 63-jähriger Verfassungsrechtler, nimmt für sich in Anspruch, im Namen der Revolution von 2011 zu handeln. Er wirft der politischen Klasse und auch der Justiz Korruption vor. Vor zehn Tagen verkündete er in einer Fernsehansprache die Auflösung des Obersten Justizrates, einer bis dahin unabhängigen Kontrollinstanz, und sprach von „Milliarden und Abermilliarden“, die von korrupten Richtern zur Seite geschafft worden seien.

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Saied sieht sich als Kämpfer, der den tunesischen Staat von „Mikroben“ befreien will, wie er seine Gegner bezeichnet. Nach seiner Ansprache traten viele Richter in einen Streik. Doch jetzt holte Saied zum zweiten Schlag aus. Per Erlass richtete er einen neuen Justizrat mit 21 Mitgliedern ein, von denen er neun direkt ernennt. Die anderen Mitglieder kontrolliert er mit der Vollmacht, als Präsident jederzeit Richter entlassen zu können. Obendrein erließ er ein Streikverbot für Richter.

Als Saied im Juli Regierung und Parlament entmachtete, standen viele Tunesier noch hinter ihm. Die Bürger des kleinen nordafrikanischen Landes mit seinen zwölf Millionen Menschen hatten genug von einer politischen Klasse, die sich ihren Machtspielchen hingab, die Wirtschaft von einer Krise in die nächste schlittern ließ und dann auch noch bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie versagte.

Als Außenseiter an die Spitze des Staates

Saied, der 2019 als Außenseiter zum Präsidenten gewählt wurde, erschien vielen als unbestechlicher Retter der Nation. Inzwischen allerdings zeigt sich, dass Saied vor allem seine eigene Macht ausbauen will. Er ließ Oppositionspolitiker und Kritiker verhaften und zu Staatsfeinden erklären. Menschenrechtsorganisationen berichten, Zivilisten würden von Militärgerichten wegen Präsidentenbeleidigung verurteilt.

Seit 2019 ist Kais Saied Staatspräsident Tunesiens.
Seit 2019 ist Kais Saied Staatspräsident Tunesiens.

© Zoubeir Souissi/REUTERS

Offiziell strebt Saied mit einem Verfassungsreferendum im Juli und Parlamentswahlen im Dezember eine Rückkehr zur Demokratie an. Die Bürger können per Internet Vorschläge für die neue Verfassung machen. Nur: Eine Mitarbeit von Parteien und Gruppen der Zivilgesellschaft lehnt der Präsident ab.

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Trotz wachsender Kritik an Saied hat sich die Opposition bisher nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können, um dem Staatschef Paroli zu bieten. Ein Teil des Oppositionslagers lehnt eine Zusammenarbeit mit der gemäßigt-islamischen Ennahda-Partei ab, obwohl diese die stärkste Kraft im aufgelösten Parlament war.

Vertrauen der westlichen Partner erschüttert

Auch der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT habe wegen interner Streitigkeiten bisher keine klare Position gegen Saied bezogen, schreibt Tunesien-Expertin Monica Marks in einer Analyse für die Organisation Dawn, die sich für Demokratie im Nahen Osten einsetzt.

Die politischen Turbulenzen seit dem Sommer haben das Vertrauen internationaler Geldgeber und das der westlichen Partner erschüttert. Das US-Außenamt betonte nach Saieds Attacke auf den Justizrat, die Unabhängigkeit der Judikative sei ein demokratisches Kernelement. Immer mehr Tunesier glauben inzwischen nicht mehr daran, dass ihr Land ihnen eine gute Zukunft bieten kann. Sie sehen nur einen Ausweg: die Flucht nach Europa.

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