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Der französische Sozialanalyst Christophe Guilluy.

© H. Assouline/Opale/Leemage/laif

Populismus: „Die breite Masse sucht Schutz“

Der Pariser Sozialanalyst Christophe Guilluy hält Populisten wie Alexander Gauland nicht für Volksverhetzer, sondern für Politiker, die eine Nachfrage bedienen.

Herr Guilluy, sind Politiker wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland, der jüngst gegen eine „globalistische Klasse“ zu Felde zog, Volksverhetzer oder bedienen sie eine politische Nachfrage, die ohnehin schon da ist?

Das Letztere. Es gibt eine riesige Nachfrage nach solchen Politikern, weil der Sockel der Mittelschicht in den westlichen Gesellschaften immer brüchiger wird. Deshalb sollte man sich nicht so sehr mit populistischen Politikern, sondern mehr mit den Ursachen ihres Erfolgs auseinandersetzen. Die Populisten sind durchaus in der Lage, ihren Diskurs der politischen Nachfrage anzupassen. Nehmen Sie beispielsweise Matteo Salvini in Italien. Bevor er Innenminister wurde, vertrat er ultraliberale Ansichten. Heute setzt er sich wählerwirksam für staatliche Umverteilung ein – gegen die eigene Überzeugung. Das zeigt: Populisten sind in der Lage, Stimmungen zu erfassen, die von vielen Menschen gleichermaßen geteilt werden: von Arbeitern, Kleinbauern und Angestellten in den entlegenen Regionen jenseits der urbanen Zentren. Auch die Rentner, die eigentlich das Erbe der klassischen Mittelschicht bewahren, wenden sich den Populisten zu.

Sind ältere Wähler besonders anfällig für populistische Parteien oder Bewegungen?

In den USA und in Großbritannien, wo das Netz des Wohlfahrtsstaats seit den 1980er Jahren immer durchlässiger wurde, haben es die Arbeiter im Rentenalter sehr schwer, über die Runden zu kommen. Es war daher logisch, dass sie in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben. In Frankreich ist die Lage bislang anders. In der Vergangenheit zeichnete sich die ältere Generation hier dadurch aus, dass sie sich vom Front National ferngehalten hat. Allerdings trifft Präsident Macron mit der geplanten Rentenreform seine eigene Klientel. Damit ist es nicht mehr sicher, dass die Senioren in Frankreich auch künftig automatisch Macrons Partei „La République en Marche“ oder das System im weiteren Sinne stützen. Macron treibt die Rentner den Populisten in die Arme.

Sind jüngere Wähler in Europa eher immun gegen den Populismus?

So pauschal kann man das nicht sagen. Der Graben verläuft nicht so sehr zwischen jung und alt, sondern vor allem zwischen Stadt und Land. In Frankreich lässt sich feststellen, dass die Globalisierungsgewinner eher in den Metropolen zu finden sind als auf dem Land. Die Jungen in Paris, Lyon oder Toulouse haben ein anderes Wahlverhalten als ihre Altersgenossen auf dem Land, die eher dem Populismus zuneigen. In Deutschland wird der Gegensatz zwischen den Metropolen und der Peripherie zwar durch die vergleichsweise gute Wirtschaftslage gemildert. Aber die Tendenz ist dieselbe.

Wie läuft es sonst für Macron im Kampf gegen den Populismus?

Schauen Sie sich doch die Umfragen an: Nur noch gut 30 Prozent der Franzosen haben eine positive Meinung von ihm. Er ist sich der sozialen Realität in seinem Land nicht genügend bewusst. Er glaubt immer noch, dass das ganze Land in der Fläche profitiert, wenn man nur genug Geld in die boomenden Regionen hineinsteckt. Das funktioniert aber nicht.

2017 setzte sich Macron bei der Präsidentschaftswahl gegen Marine Le Pen durch. Über welches Potenzial verfügt Le Pens Front National, der sich inzwischen in Rassemblement National umbenannt hat?

Der Rassemblement National wird bei den Europawahlen im kommenden Mai voraussichtlich sehr stark abschneiden, so wie alle anderen populistischen Parteien in Europa. Die breite Masse sucht Schutz – und findet ihn bei den Extremen. Deshalb wird den klassischen Volksparteien, egal ob sie auf der linken oder rechten Seite des Spektrums stehen, nichts anderes übrig bleiben, als diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen.

Sollte man die Populisten rhetorisch bekriegen?

Nein. Wer sie ächtet oder als Faschisten bezeichnet, treibt sie in eine Opferrolle hinein und macht sie damit nur noch stärker. Wir müssen uns auf das Wesen der Demokratie besinnen – nämlich das Wohl der Ärmsten und der großen Mehrheit zu mehren. Von den Intellektuellen und den Parteien wurden die Menschen am unteren sozialen Rand in der Vergangenheit geachtet. Das ist heute nicht mehr der Fall. Was Deutschland anbelangt, so lässt sich indes nicht verleugnen, dass die massenhafte Ankunft von Flüchtlingen vor drei Jahren für viele, die zu den sozial Schwachen zählen, einen Schock bedeutete.

Warum?

Anders als diejenigen, die besser verdienen, haben die sozial Schwächeren keine Möglichkeit, sich gegen Migranten in ihrer unmittelbaren Umgebung abzuschotten. Die Besserverdienenden haben die nötigen Mittel, selbst über ihren Wohnort und ein Umfeld zu entscheiden, das ihnen genehm ist - inklusive der passenden Schulen für ihre Kinder. Ich nenne das immer eine „unsichtbare Grenze“, welche die Vermögenden in den Städten um sich herum ziehen. Wer nicht über die nötigen Mittel verfügt, kann eine solche „unsichtbare Grenze“ nicht errichten - und ruft statt dessen einen starken Staat zu Hilfe.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

Christophe Guilluy (53) beschäftigt sich als gelernter Geograf mit der Spaltung zwischen Stadt und Land in der westlichen Welt und dem Aufstieg des Populismus. Anfang Oktober erschien von ihm bei Flammarion „No Society. La fin de la classe moyenne occidentale“ (etwa: „Keine Gesellschaft. Das Ende der westlichen Mittelschicht“).

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