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Neuerfindung. Das Image Österreichs als Urlaubsland wurde seit den 1920er Jahren geformt – und blieb bestimmend bis heute.

© Wien Museum

Politische Literatur: Der Kaiser ging, die Österreicher blieben

Die Zeit im NS-Regime bleibt der dunkle Fleck: Neue Bücher zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert.

Im neuen Jahr gilt die Aufmerksamkeit ganz besonders Österreich. Aktuell ist die Besorgnis über die rechtsgerichtete Regierung, historisch der Rückblick auf den Zerfall der Donaumonarchie im Spätherbst 1918. Einmal mehr steht Österreich „unter Beobachtung“.

Mit diesem Titel hat der Wiener Historiker und langjährige Leiter des Heeresgeschichtlichen Museums, Manfried Rauchensteiner, sein Buch über die zu Ende gehenden 100 Jahre seit dem Ende der k.u.k. Doppelmonarchie versehen: „Unter Beobachtung. Österreich seit 1918“. Das 600-Seiten-Werk schließt an sein doppelt so dickes magnum opus von 2013 an, „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918“.

Es gibt wohl keinen besseren Kenner der österreichischen Geschichte der neuesten Zeit, und da schon das Weltkriegs-Opus ungeachtet seines schweren Gegenstandes mit jenem trockenen Humor gewürzt ist, der das Pendant bildet zum Wiener Schmäh, konnte man auf die Fortsetzung nur gespannt sein.

Der Leser wird nicht enttäuscht. Rauchensteiner hatte am Schluss seines Weltkriegs-Buches den Zerfall der Monarchie zu berichten gehabt. Nahtlos schließt sich jetzt die chaotische Entstehung des auf einen Bruchteil des vormaligen Reichsgebietes begrenzten Nachfolgestaates Deutsch-Österreich an, der freilich so nicht heißen durfte, weil die Sieger der Entente jede Verbindung zum gleichfalls geschlagenen Deutschen Reich untersagten.

Vor allem Frankreich wachte mit Argusaugen darüber, dass das entsprechende Verbot aus dem Vertrag von Saint-Germain vom 10. September 1919 peinlich eingehalten wurde. Darüber täuschte sich die österreichische Politik mehr als einmal.

Schon der Beginn der Republik beruhte auf Selbsttäuschung: Das Staatsgebiet, das sich Deutschösterreich mit Gesetz vom 22. November 1918 zurechtschneiderte, folgte den Sprachgrenzen. Was später „Sudetenland“ genannt und eigene politische Sprengkraft entfalten sollte, also die deutschsprachigen Randgebiete Böhmens und Mährens, wurde dazugenommen, dazu vor allem Südtirol – ausgerechnet Südtirol, das Italien sich als Preis für den Seitenwechsel von 1915 im Londoner Vertrag hatte zusichern lassen.

Dass der Autor immer wieder auf die wirtschaftliche Situation, insbesondere die Ernährungslage eingeht, zählt zu den Stärken seines Buches. Schon im Vorgängerband zum Ersten Weltkrieg konnte er zeigen, wie kriegsentscheidend die Versorgung der Bevölkerung war.

"Agonie der Kaiserstadt". Edgard Haiders Buch über Wien 1918.
"Agonie der Kaiserstadt". Edgard Haiders Buch über Wien 1918.

© promo

Ein anschauliches Bild von den Nöten der Bevölkerung wie von der gleichzeitig aufrechterhaltenen Prachtentfaltung der Habsburgermonarchie liefert Edgard Haider in seinem Buch „Wien 1918. Agonie der Kaiserstadt“. Wie schon im Vorgängerband über „Wien 1914“ hat Haider eine gewaltige Fülle zeitgenössischer Quellen aufgetan, die er in aller Länge zitiert.

Denn so erst entsteht ein Abbild der Zustände, der realen wie der seelischen. Etwa, wenn die Presse schreibt, „auch in diesem entbehrungsreichen Kriegswinter“ sei „im treuen Herzen des österreichischen Volkes noch Raum genug zur Mitfreude über das Familienglück des Kaiserpaares ...“. Dagegen dann Haiders Feststellung, dass 1918 „das Angebot an Lebensmitteln auf ein Drittel des Friedensniveaus gesunken“ sei. Im Gegenschnitt von Hoch und Niedrig bildet das exzellente Buch das Unterfutter für die Darstellungen der „großen“ Geschichte.

Nach dem skandalösen Freispruch brannte der Justizpalast

Die Frage der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit hing beständig über der ersten Republik. Sie ist geprägt von Gewalt. Links und Rechts stehen einander gegenüber. Sie haben in „Schutzbund“ und „Heimwehr“ ihre Kampftruppen.

Ein Höhepunkt der fortwährenden Konfrontationen war 1927 der Brand des Wiener Justizpalastes nach dem skandalösen Freispruch rechter Attentäter. 200.000 Menschen demonstrierten vor dem Gebäude, es geriet in Brand, und am Ende gab es 94 Tote und 500 Verletzte. „Die Verzichtserklärung Kaiser Karls ging ebenso in Flammen auf wie Grundbücher und Akten der Zentralbehörden Alt-Österreichs“, flicht Rauchensteiner lakonisch ein.

"Die dunklen Jahre": Kurt Bauers Studie über den Alltag im NS-Österreich.
"Die dunklen Jahre": Kurt Bauers Studie über den Alltag im NS-Österreich.

© promo

Es kam die Weltwirtschaftskrise, die ungebremst auf Österreich durchschlug. Über eine Kleinigkeit ging das Parlament am 4. März 1933 auseinander. Doch inzwischen war bereits Engelbert Dollfuß zum Kanzler berufen worden, „antimarxistisch und streng katholisch“. Er regierte fortan autoritär – es kam die Bezeichnung „Austro-Faschismus“ auf –, suchte aber dem überhandnehmenden Terror österreichischer Nazis zu wehren.

Das wurde ihm 1934 zum Verhängnis. Zunächst kam es zu einem Putschversuch des sozialdemokratischen Schutzbundes, den die Regierung mit militärischer Gewalt brach. Wenige Monate später wurde Dollfuß von österreichischer SS im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz ermordet – ein Mord mit Ansage, ja im vollen Licht der Öffentlichkeit. Österreich blieb eine Gnadenfrist, die Dauer bestimmte Hitler in Berlin.

Das Verhältnis zu Deutschland blieb die Hypothek, die auf der Republik lastete. Ihr Ende war der „Anschluss“ vom 13. März 1938. Dass sich Österreich später als „erstes Opfer einer Aggression der Nazis“ sehen durfte, wie es der britische Premierminister Winston Churchill bereits im Februar 1942 formulierte, bahnte den Weg zur österreichischen Amnesie, besagten Anschluss und die Jahre als Teil von Nazi-„Großdeutschland“ betreffend.

Rauchensteiner urteilt differenziert. Er stellt den landesweiten Jubel beim Einrücken der Wehrmacht dar, wie auch die binnen Tagen, ja beinahe Stunden sich vollziehende Selbstpreisgabe; aber ebenso die systematisch geplante und brutal vollzogene „Gleichschaltung“ durch die Nazis. „Nach einem Jahr Zugehörigkeit Österreichs zum Deutschen Reich war zu konstatieren“ – so Rauchensteiner –, „dass die nationalsozialistische Revolution das Land völlig verändert hatte. Über weite Strecken hatte ein Elitentausch stattgefunden. Die traditionellen Bindungen an Familie, Kirche und eine habsburgisch-österreichische Geschichte wurden so rasch wie möglich zu lockern gesucht.“

Kurt Bauer beschreibt den Alltag nach 1938

Für die Zeit der Nazi-Herrschaft liegt eine weitere umfängliche Arbeit vor, die Kurt Bauer unter dem Titel „Die dunklen Jahre“ verfasst hat. Bauer zeichnet auf gut 400 Seiten ein bedrückendes Bild dieser sieben Jahre. Als gestaltendes Mittel schiebt Bauer Aufzeichnungen einfacher Zeitzeugen ein, lässt sich jedoch davon in seiner Aufgabe als Historiker, dem tatsächlichen Geschehen nachzuforschen, nicht beirren.

Sozialgeschichtlich gleicht Bauers Befund demjenigen Rauchensteiners, wenn er von der „Revolutionierung der Lebenswelten“ spricht: „Viele, vor allem Jüngere, profitierten stark vom Nationalsozialismus. Durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit und das Ansteigen der Löhne verbesserte sich das Masseneinkommen sprunghaft. (...) Die Menschen konnten sich Dinge kaufen, an die vorher kein Denken gewesen wäre.“

Allerdings gewann das „Österreich-Bewusstsein“, wie Bauer es nennt, ab Stalingrad 1943 die Oberhand, „gespeist von der opportunistischen Hoffnung, bei der Endabrechnung nach der immer wahrscheinlicher werdenden Niederlage als Österreicher von den Alliierten milder behandelt zu werden als die Deutschen“.

Die Sowjets ließen dieses offiziell gewordene Geschichtsbild in die „Unabhängigkeitserklärung“ vom 27. April 1945 einfließen. Der nachmalige Bundespräsident Karl Renner, bei Rauchensteiner eine merkwürdig schillernde Figur zwischen Habsburg, Republik, Anschluss und wieder Republik, formulierte, die Nazis hätten „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg“ geführt, „den kein Österreicher jemals gewollt“ habe. So bildetet die Exkulpation das Fundament der Nachkriegsrepublik.

Unter Beobachtung: Manfried Rauchensteiner zeichnet den Weg bis in die Gegenwart nach.
Unter Beobachtung: Manfried Rauchensteiner zeichnet den Weg bis in die Gegenwart nach.

© promo

Von deren Geschichte – bis heute 72 Jahre – handelt der größere Teil von Rauchensteiners Buch. Eine Wegmarke bedeutete der Abschluss des Staatsvertrages von 1955, der Österreich Souveränität gegen die Selbstverpflichtung zur Neutralität gewährte. Gestrichen wurde aus der Präambel „jener Passus (...), in dem von der österreichischen Mitverantwortung am Krieg und der NS-Herrschaft die Rede war. Die Außenminister der Besatzungsmächte stimmten zu.“

Nicht auf ewig ließ sich der österreichische Gedächtnisverlust durchhalten. Mit der Affäre um Bundespräsident Kurt Waldheim rückte 1984 in den Blick, was doch gar nicht gewesen sein durfte: dass Österreicher im NS-Staat ordentlich mitgemacht hatten. Der „Fall Waldheim“ wurde „zu einer Abrechnung mit der österreichischen Kriegs- und Nachkriegszeit“. Schade, dass Rauchensteiner die Sottise des damaligen Bundeskanzlers Sinowatz auslässt, „ich nehme zur Kenntnis, dass Waldheim nicht bei der SA war – nur sein Pferd“. Jedenfalls geriet Österreich einmal mehr unter Beobachtung.

Rauchensteiner: EU-Beitritt war das große Ziel

Mit dem Zerfall des Ostblocks, vor allem Jugoslawiens, wurde Österreich noch einmal schlagartig an die eigene Geschichte erinnert: „Nicht nur Slowenien, sondern auch Kroatien, Bosnien und die Herzegowina hatten zur Habsburgermonarchie gehört.“ Österreich geriet für einige Tage in den Beinahe-Krieg um Slowenien – und sah sich, bislang als „Brücke“ zwischen Ost und West umschmeichelt, von den Westmächten ziemlich alleingelassen. Auch das ging vorüber.

Wichtiger wurde es, den lang gehegten Wunsch nach Aufnahme in die EU betreiben zu können, der bis dahin am Veto der Sowjetunion gescheitert war. Auch die wurde Geschichte, und mit ihr hinderliche Bestimmungen aus dem Staatsvertrag von ’55. „Mit dem EU-Beitritt hatte Österreich wieder einmal ein großes Ziel erreicht“, bilanziert Rauchensteiner: „In keinem anderen europäischen Land war man so stolz auf sich wie in Österreich.“

Es folgten der Wandel der Parteienlandschaft, der Wahlergebnisse und Koalitionen; so erreicht das Buch die Gegenwart. Dessen Schlusskapitel haben – beinahe unvermeidlich – mehr aufzählenden als analytischen Charakter.

Aus seinem Herzen macht der Autor keine Mördergrube, wenn er beklagt, dass dem heutigen Österreich einmal mehr „der Titel eines letzten Horts des Nationalsozialismus gegeben wurde“. Bitterkeit kommt den Österreich-Patrioten an angesichts der „nationalistischen Wanderschaft“, auf die sich das Land begeben habe, bereit, „alles aufs Spiel zu setzen, was in Jahrzehnten aufgebaut und mit der Geistigkeit eines europäischen Kernlands erfüllt worden war“.

Nicht mit solchem Pathos schließt das Buch, sondern mit einer Betrachtung des Wiener Heldenplatzes, dieses archetypischen lieu de mémoire. Hier stand, zwanzig Jahre nach dem Untergang der Monarchie, Hitler auf einer Terrasse, die im Volksmund bis heute mit seinem Namen belegt wird. Habsburg und Hitler, sie ragen eben auch ins 21. Jahrhundert hinein.

Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2017. 628 S., 25 Abb., 29 €.

Kurt Bauer: Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 480 S., 16,99 €.

Edgard Haider: Wien 1918. Agonie der Kaiserstadt. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2018. 418 S. mit 125 S/W- und 32 Farbabb., 29 €.

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