zum Hauptinhalt
Schritt für Schritt oder großer Wurf? Bodenplatte einer Statue aus dem Archäologischen Museum von Athen. Foto: p-a

© picture alliance / dpa

Bücher zur Zukunft Europas: Auf der Matte

Es gibt viele Bücher mit vielen Vorschlägen zur Zukunft der EU – aber keiner rückt die Zivilgesellschaft in den Vordergrund. Eine Sammelrezension.

Mehr als die Finanzkrise und andere Erschütterungen des europäischen Einigungsprojekts fordert Brexit zum Nachdenken über Europa auf. Nicht nur den Folgen des Austritts widmen sich Autoren und Autorinnen in Kommentaren und Studien unter wirtschaftlichen, geostrategischen und kulturellen Gesichtspunkten. Das ganze Projekt steht auf dem Prüfstand. Mehr als früher melden sich Intellektuelle und politische Denker zu Wort.

Wir müssen disruptiv denken

Vielleicht muss Europa noch mal ganz neu und anders gedacht werden! Das „singuläre Novum“ nennt es Dieter Grimm in einer Aufsatzsammlung mit dem Titel „Europa ja – aber welches?“ Diese beschäftigt sich mit der im Grunde einfachen Frage: Wie geht es weiter? Die Antwort ist sehr viel weniger einfach; es erstaunt daher nicht, dass sehr unterschiedliche Überlegungen vorgetragen werden. Dies, so sei ausdrücklich angemerkt, ist notwendig. Wir haben viel zu lange unsere Pläne „alternativlos“ nur für das Konzept EU als Inbegriff von Europa gemacht und stehen nun vor einem Scherbenhaufen. Da ist jede gut argumentierte Idee es wert, ohne Vorbehalt erörtert zu werden. Ob am Schluss ein neuer Königsweg herauskommt, wann dies sein wird und wie dieser aussehen könnte, wissen wir alle noch nicht. Aber, erstens: Wir haben dafür nicht alle Zeit der Welt. Zweitens: Wir müssen es schaffen. Und drittens: Wenn wir es schaffen wollen, müssen wir disruptiv und nicht pfadabhängig denken und handeln. Vor dieser Folie seien fünf 2016 in Deutschland vorgelegte Publikationen etwas genauer in den Blick genommen.

Die Titel sind Programm. Sie machen die Position der Autoren und Autorinnen deutlich. Während Claus Offe und Brendan Simms/Benjamin Zeeb Europa „in der Falle“ bzw. „am Abgrund“ sehen und Dieter Grimm in der Frageposition verharrt, legen Evelyn Roll mit „Wir sind Europa!“ und Ulrike Guérot mit „Warum Europa eine Republik werden muss!“ Streitschriften vor. Es mag unfair erscheinen, ausgewiesene Wissenschaftler anhand der meist von den Verlagen bestimmten Titel mit Aktivistinnen zu vergleichen. Alle Autoren folgen freilich ihrer Titelansage; im Übrigen hat Jürgen Habermas schon 2011 sehr streitbar „Zur Verfassung Europas“ Stellung bezogen.

Dieter Grimm, prominenter Staatsrechtslehrer, rückt manches gerade, was in der öffentlichen, auch politischen Debatte schief dargestellt wird und erinnert in sorgfältiger Analyse an die tatsächliche gegenwärtige Rechtslage der EU. Das ist wichtig, denn nur so können wir beurteilen, ob es überhaupt Sinn ergibt, „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“, wie es in der Präambel zum Vertrag von Lissabon heißt.

Der irische, in Cambridge lehrende Historiker Brendan Simms und der Deutsche Benjamin Zeeb verwerfen in ihrem Buch die „gradualistische Täuschung“, Europa könne sich Schritt für Schritt weiterentwickeln. Sie begründen dies durch eine längere historische Herleitung, was ihres Fachs ist; allerdings klingt sie eher kursorisch und hinter der Zeit. Flüchtigkeitsfehler vermitteln den Eindruck eines schnell zusammengebauten Manuskripts. Deutschland spielt für sie eine zentrale Rolle, mehr, als sich gerade viele Deutsche das wünschen. Ihr angelsächsisch bestimmtes Konzept bleibt konventionellen Staatsideen verhaftet. Dass sie dabei auch das hohe Lied des Vereinigten Königreichs singen, ist angesichts von dessen Identitätsproblemen originell.

Der Sozialwissenschaftler Claus Offe argumentiert anders. Er hat Änderungen der Vertrags- und Verfassungsstruktur Europas nicht im Blick. Eine deutsche Führungsrolle verwirft er ausdrücklich. Für ihn gibt es „kein Zurück zum Ausgangspunkt“. Vielmehr mahnt er eine Politikänderung an. Europa darf für ihn nicht den Interessen einzelner Gruppen von Staaten und Märkten dienen, sondern muss allen Bürgerinnen und Bürgern soziale Anspruche gewähren.

Ihr Modell der Vereinigten Staaten von Europa orientiert sich am System der USA

Ulrike Guérot, obwohl ebenfalls Politikwissenschaftlerin, argumentiert dagegen im Grunde kulturwissenschaftlich, ja geradezu ästhetisch. Ihr Ritt durch die politische Ideengeschichte Europas ist, gelinde gesagt, tollkühn, ihr Einsammeln von Argumenten, wo immer sie sie findet, widersprüchlich und nicht selten fehlerbehaftet. Aber wo es ihr um die politische Neuordnung Europas geht, bricht nur sie aus dem Pfad aus und entwickelt, wenngleich französisch gefärbt, Robert Menasses Konzept von einem regional strukturierten Europa weiter.

Evelyn Roll, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, geht wieder anders an das Thema heran. Obwohl nicht theoriegeleitet, widerlegt sie an einer Stelle sehr prägnant den Hegel’schen Heilsmythos vom Fortschreiten der Geschichte. Wir müssen, so macht sie deutlich, von vorn beginnen. Sie teilt aus und will aufrütteln. „Auf die Straße“ heißt ein Kapitel. Die Europäische Union ist, sagt sie, wie ein kurzer Blick auf eine pazifikzentrierte Weltkarte immer wieder klarmacht, unsere einzige Zukunftschance.

Es verwundert nicht, dass sehr unterschiedliche Lösungsansätze angeboten werden. Plädiert Grimm für eine parlamentarisierte EU, die für ihn auch eine demokratischere wäre, und für europäisch verfasste Parteien, ruft Offe vor allem nach einer europäischen Politik der sozialen Sicherheit, einem europäischen Umverteilungssystem, das für mehr Gerechtigkeit sorgt. Auch ihm schwebt eine supranationale Demokratie vor, die die heutige EU weiterentwickelt. Dem widersprechen Simms und Zeeg mit ihrem Modell der Vereinigten Staaten von Europa, das sich theoretisch am System der USA orientiert.

Ulrike Guérot propagiert im Gegensatz dazu eine radikale Lösung: eine europäische, in Provinzen eingeteilte Republik. Vom supranationalen zum transnationalen Europa führt ihr Weg. Alle europäischen Bürgerinnen und Bürger partizipieren in gleicher Weise an europäischen Institutionen ebenso wie an Sozialleistungen, Steuerpflichten usw. Sie ist realistisch genug, dies als Utopie zu bezeichnen. Denken darf man dies, im Sinne von Heinrich Heines Macht der Theorie allemal.

Das „singuläre Novum“

Ein zentraler Blickwinkel kommt in diesen Publikationen zu kurz: die Entstaatlichung von Politik. Es geht stets um staatliche Mechanismen, sei es Regierung, Parlament oder Gericht, sei es Europa, Mitgliedsstaat oder Region. Dass das Dilemma, in dem wir uns befinden, die Stunde der Zivilgesellschaft sein könnte, dass Europa von denen, die es wollen, in Staat, Markt und Zivilgesellschaft aufgebaut werden könnte, kommt keinem der Autoren so recht in den Sinn. Dies ist bei Grimm verständlich, denn sein Erörterungsgegenstand ist ein anderer. Offe dagegen hat sich vielfach intensiv mit Zivilgesellschaft auseinandergesetzt. Warum also nicht auch hier? Simms und Zeeb sprechen zwar von Zivilgesellschaft, unterstellen ihr aber, sie könne sich erst dann europäisieren, wenn sich europäische Strukturen entwickelt haben – eine nach allen Erfahrungen der letzten 30 Jahre in Mittel- und Osteuropa und anderswo eklatante Fehleinschätzung. Ulrike Guérot würdigt zwar relativ ausführlich eine ganze Fülle von zivilgesellschaftlichen Initiativen, versäumt es aber, sie ins Kalkül zu ziehen. Selbst Evelyn Roll, die gegen den Nationalismus zu Felde zieht und vom „Wir“ spricht, nennt Zivilgesellschaft ein „komisches Soziologenwort“, spätestens seit den Erfahrungen mit den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Lotsen für geflüchtete Menschen in unsere Gesellschaft eine seltsame Verkürzung. Allerdings plädiert sie, wenngleich in einem sehr allgemeinen Sinn, für einen Druck der proeuropäischen Bürger, die „den Leuten auf der Kommandobrücke sagen müssen: Gebt Europa nicht auf! Wir wollen das nicht!“.

Eine Staatenunion bildet sich, so Simms und Zeeg, „nicht auf evolutionärem Weg, sondern durch einen großen Knall“. Es kann also sein, dass Europa irgendwann durch Druck von außen zusammengeschmiedet wird. Besser wäre aber, wenn wir das „singuläre Novum“ auch singulär und neu zuwege brächten – mit den Instrumenten einer offenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert.

Rupert Graf Strachwitz

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false