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Karl Marx (1818–1883) in einer zeitgenössischen Darstellung.

© imago/Leemage

Biografien zum 200. Geburtstag: Karl Marx in seinem Jahrhundert

Neue Biografien zum 200. Geburtstag beleuchten Leben und Wirken des schärfsten Kritikers des Kapitalismus. Den „Marxismus“ erfanden andere.

Das öffentliche Interesse an Karl Marx hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Jetzt führt sein bevorstehender 200. Geburtstag zu einer Flut einschlägiger Veröffentlichungen. Sein Bild in Wissenschaft und Öffentlichkeit gewinnt dadurch neue Konturen. Karl Marx kehrt einerseits in unsere Gegenwart, aber andererseits in seine Geschichte zurück. Nicht nur findet eine oft problematische Aktualisierung seines Werkes statt, sondern auch eine gründliche Historisierung seines Lebens und Wirkens, die ihm, vielleicht zum ersten Mal, wirklich gerecht wird.

Am wirkungsvollsten geschieht das in der neuen Marx-Biografie des renommierten Sozialhistorikers Gareth Stedman Jones. Er zeichnet Marx als Mann des 19. Jahrhunderts und stellt ihn dezidiert in die Kontexte, die ihn beeinflussten und die er mitzugestalten versuchte. Er verbindet die gekonnte, ausführliche, oft kritische Exegese der wichtigsten Schriften von Marx mit der Darstellung seiner Anfänge als Anwalt, Dichter und Liebhaber, seines fast immer prekären Familienlebens, seiner ihn tragenden Freundschaft mit Friedrich Engels und seiner dichten, durch Exilerfahrungen verstärkten Vernetzung mit anderen europäischen Intellektuellen, die er gedanklich ausbeutete und oft gleichzeitig bekriegte.

Und er führt Marx als Politiker vor: als Radikaldemokraten in der Revolution von 1848/49 und als führende Figur in der I. Internationale in London 1864–72. Man begreift Marx als Kind seiner Zeit und ihrer Umbrüche. Man erkennt, was er mit anderen teilte oder von ihnen übernahm: die linkshegelianische Philosophie, die Hinwendung zur Ökonomie als zentraler gesellschaftlicher Dimensionen seit Mitte der 1840er Jahre, das sozialkritische Engagement mit der Erwartung einer weiteren Revolution.

Marx blieb widersprüchlich, fragmentarisch und häufig vage

Man begreift aber auch, was ihn vor anderen auszeichnete. Dazu gehörte seine Fähigkeit, die europaweit diskutierte soziale Frage mit den besten Traditionen der deutschen Philosophie zu verknüpfen und daraus einen emphatischen Begriff von Arbeit als Kern menschlicher Existenz zu entwickeln, um darauf eine Grundsatzkritik der ja erst noch entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zu begründen. Fasziniert und fundamental-kritisch zugleich, analysierte Marx als Erster die alle Grenzen überschreitende, tendenziell alles durchdringende und globale Dynamik des Kapitalismus als systemimmanent. Er beschrieb das entstehende Proletariat als leidendes Opfer des Kapitalismus und zugleich als historisches Subjekt mit der Mission, ihn zu überwinden. Seine große intellektuelle und sprachliche Kraft, seine umfassende Bildung in mehreren Sprachen, seine hochentwickelte Medienkompetenz, sein leidenschaftlicher Ehrgeiz, sein dominantes Auftreten und sein oft rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen kamen hinzu. Er überzeugte viele andere und gewann historische Gestaltungsmacht.

Doch deutlich wird auch, dass Marx nicht der geniale Denker mit gnadenloser Konsequenz, klarer Zukunftsvision und prognostischer Fähigkeit war, als der er im 20. Jahrhundert gern dargestellt wurde. Er suchte, zweifelte und revidierte sich ständig. Er blieb widersprüchlich, fragmentarisch und häufig vage. Er hinterließ kein fertiges Werk, kein System und keine wirkliche „Lehre“, sondern eher einen Steinbruch von oft brillanten, aber fragmentarischen, meist unveröffentlichten Analysen, Gedanken, Hypothesen und Fragen. Er blieb, auch als Politökonom, weit hinter dem zurück, was er sich vorgenommen hatte.

Nüchtern, kritisch und historisch fundiert vermag Stedman Jones dies zu zeigen. Sein Buch, das im englischen Original den Untertitel „Greatness and Illusion“ trug, stellt einen großen Fortschritt in der internationalen Marx-Forschung dar. Aber Stedman Jones verbleibt selbst allzu sehr im Detail, statt sich zu einer bündelnden Konklusion aufzuschwingen und eine neue Gesamtdeutung von Person und Werk wenigstens zu skizzieren.

Die Gefahr besteht, Marx zum Seher und Propheten zu verklären

In der gegenwärtigen Marx-Diskussion zeichnen sich aber auch gegenläufige Tendenzen ab. Hat Marx nicht früh und wirkungsvoll die inneren Widersprüche des Kapitalismus analysiert? Was hat er zu dessen gegenwärtigen Widersprüchen und Krisen zu sagen? Auf der Suche nach Orientierung erscheint weniger seine Historisierung als seine Aktualisierung interessant. Das kann zu fruchtbaren Fragen und Antworten führen. Es führt aber auch leicht zu Kurzschlüssen, die die ausgeprägte Differenz zwischen dem Zeitalter des Industriekapitalismus, den Marx und Engels ausschließlich kannten, und dem heutigen globalen, oft postindustriellen Kapitalismus übersehen und überdies ignorieren, wie fundamental sich das Verhältnis von Wirtschaft und Staat in den letzten anderthalb Jahrhunderten verändert hat.

Die Gefahr besteht, Marx zum Seher und Propheten zu verklären und zur über-lebensgroßen Ausnahmegestalt zu stilisieren. So soll er ja auch demnächst, als Geschenk aus China, auf dem Marktplatz von Trier stehen: fünf Meter hoch, zwei Tonnen schwer, aus Bronze.

Ein hölzerner Schattenriss der geplanten Karl Marx-Statue in Trier.
Ein hölzerner Schattenriss der geplanten Karl Marx-Statue in Trier.

© dpa/ picture alliance / Harald Tittel

Etwas von dieser Haltung findet sich in Jürgen Neffes Marx-Biografie. Für ihn legte Marx nicht nur den „Grundstein zur Erkenntnis des Wahnsinns, der die Welt bis heute beherrscht“. Er lässt auch keine Gelegenheit aus, Marxens Einsichten auf Gegenwärtiges zu beziehen, etwa auf die Finanzkrise von 2008 oder auf die wieder zunehmende sozialökonomische Ungleichheit in unseren Gesellschaften. Dabei wird nicht immer deutlich, inwiefern Marx’sche Ideen aus dem mittleren 19. Jahrhundert zur Beherrschung aktueller Schieflagen und Bedrängnisse besser beitragen können als beispielsweise sozialreformerische Rezepte aus sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsberatung von heute. Zumal ja so manches marxistische Heilmittel in den Jahrzehnten des real existierenden Staatssozialismus seine Wirkungslosigkeit oder Schädlichkeit bewiesen hat. In dieser und manchen anderen Hinsichten wissen wir heute viel mehr als Marx, der in sicherer Entfernung vom extremen 20. Jahrhundert lebte, dachte und schrieb. Der symbolische Mehrwert des kritischen Rückverweises auf Marx ist offensichtlich wichtiger als sein weitgehend fehlender operativer Nutzen.

Die Diktatur des Proletariats als Modell?

Besonders fragwürdig wird der Versuch direkter Nutzanwendung von Marx in Neffes Abschnitt über dessen Schrift „Bürgerkrieg in Frankreich“. Darin trat Marx bekanntlich mit großer Öffentlichkeitsresonanz für die Pariser Kommune von 1871 und ihren Aufstand gegen die provisorische französische Regierung ein, die nach der Niederlage gegen die preußisch geführten deutschen Truppen das bonapartistische Regiment Napoleons III. abgelöst hatte. Marx interpretierte die Kommune kühn als „Regierung der Arbeiterklasse“, Engels fügte später hinzu: als ersten Versuch, die von Marx vage anvisierte „Diktatur des Proletariats“ zu errichten. In seinem demonstrativen Lob für die Pariser Kommune gab Marx sehr deutlich seine Sympathie für illiberale Demokratie und seine Skepsis gegenüber Gewaltenteilung zu erkennen. Neffe sieht dies als anschlussfähig. „Seine Vorstellungen von direkter Volksvertretung gewinnen angesichts zunehmender Staatsverdrossenheit, Demokratiemüdigkeit und Hass auf das ‚Establishment‘ heutzutage wieder an Anziehungskraft.“ Die Diktatur des Proletariats als Modell?

Wem es gelingt, diesen Mangel an historischer Kritikfähigkeit zu ignorieren, wird das Buch dennoch mit Gewinn lesen. Neffe bringt viele eindrucksvolle Zitate, vor allem aus Marxens ausführlichem Briefwechsel mit Freunden und Feinden, der an unterhaltsamer Direktheit wenig zu wünschen übrig lässt. Er verfügt über die Kunst, lesbar, flüssig, ja flott zu schreiben, ohne – in der Regel – verzerrend zu simplifizieren. Neffe ist ein erfahrener Biograf, der bereits über andere große Männer geschrieben hat, so über Darwin und Einstein, mit denen er Marx gern vergleicht. Der wissenschaftliche Anspruch des Buches mag begrenzt sein, doch seine Informationsbasis ist tragfähig. Neffe kennt seinen Gegenstand gut. Mit viel Gespür für Erzählenswertes, etwa aus dem Überlebenskampf der häufig zahlungsunfähigen Marx-Familie und aus dem Alltag des Journalisten, Politikers und Gelehrten Marx entsteht eine lesenswerte Einführung in die Persönlichkeit, die Gedankenwelt, die Praxis und das Werk dieser historischen Gestalt, deren Größe auch dann erkennbar ist, wenn man die Übertreibungen des Autors streicht.

Uminterpretation und Institutionalisierung Marx’scher Ideen

Karl Marx (1818–1883) in einer zeitgenössischen Darstellung.
Karl Marx (1818–1883) in einer zeitgenössischen Darstellung.

© imago/Leemage

Der Einfluss der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) auf unser Bild vom historischen Marx wird allmählich erkennbar. Bekanntlich arbeitet eine internationale Forschergruppe unter der Federführung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an einer kritischen Neuausgabe der Schriften von Marx und Engels. 59 Bände sind bisher erschienen, weitere 30 sind geplant. Frühere Ausgaben waren unvollständig, bisweilen ungenau und selektiv, teils aus politisch-ideologischen Gründen, teils weil das Werk von Marx erst allmählich zur Gänze bekannt geworden ist. Die neue Ausgabe behebt diese Schwächen und stellt mit ihrer peniblen editorischen Kommentierung der Forschung eine neue Grundlage zur Verfügung.

Es zeichnet sich eine Aufwertung der Rolle von Friedrich Engels ab, der allzu oft als zweitrangig hinter Marx eingestuft worden ist. Zum anderen wird Marxens Engagement in der I. Internationale ausführlicher dokumentiert als bisher. Damit wird der „sozialdemokratische Marx“ sichtbar, der sich intensiv für Gewerkschaften einsetzte, sich nachhaltig mit sehr konkreten arbeitspolitischen Problemen beschäftigte und auf Sozialpolitik setzte. Vor allem aber macht die neue Ausgabe unübersehbar deutlich, wie unabgeschlossen, in sich vielfältig, widersprüchlich und unsystematisch die Erbschaft war, die die beiden nach mehreren Jahrzehnten emsiger Autorenschaft hinterließen. Man versteht, dass ihr Werk unterschiedliche, auch gegensätzliche Lesarten erlaubt, ja erzwingt. Und man erkennt deutlicher als bisher, wie sehr sich das, was von Marx in seinem Todesjahr 1883 vorlag, von dem unterscheidet, was nachfolgende Generationen von Nutzern, Kritikern und Deutern daraus gemacht haben.

So galt etwa die Schrift „Deutsche Ideologie“ lange als der wichtigste Ort, an dem Marx und Engels den „Historischen Materialismus“ ausgearbeitet und damit die philosophisch-theoretische Grundlage des Marxismus gelegt haben. Der kürzlich veröffentlichte Band I/5 der MEGA zeigt aber im Detail, dass dieser Text nie als Buch erschienen ist, sondern aus verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen stammt, die nur fragmentarisch überliefert und erst später von anderen zu einer Textkompilation verarbeitet wurden.

Zunehmende Heldenverehrung unter marxistischen Intellektuellen

Die neuen Forschungsergebnisse führen vor Augen, dass der „Marxismus“ des 20. und 21. Jahrhunderts nur sehr begrenzt auf Marx zurückzuführen ist. Mit dieser Einsicht eröffnet Stedman Jones sein grundlegendes Buch. Marx sei zwar schon zu Lebzeiten europaweit berühmt gewesen, vor allem als Verfasser von Band 1 des „Kapital“ 1867 und als eloquenter Verteidiger der Pariser Kommune von 1871 im Namen der Arbeiter-Internationale. Aber seine Berühmtheit hielt sich in Grenzen, die meisten seiner Schriften waren unbekannt, als er starb, man war noch weit davon entfernt, ihn als Epochengestalt zu verehren. Das habe sich erst später geändert.

„Nach den Ereignissen von 1917 und der globalen Ausbreitung eines Kommunismus sowjetischer Machart wurde Marx im Rahmen einer immer monumentaleren Mythologie als heldenhafter Erfinder und Gesetzgeber des Kommunismus gefeiert.“ Er wurde als Begründer des „Historischen Materialismus“, als geistiger Vater der Revolutionen und als Rechtfertiger der verschiedenen Ausprägungen kommunistischer Herrschaft von den einen verehrt, von anderen verurteilt. Analoge Prozesse zunehmender Heldenverehrung entwickelten sich unter marxistischen Intellektuellen, auch außerhalb des Bolschewismus – bis heute. All das instrumentalisierte und verzerrte den historischen Marx.

Der berühmte „Runde Lesesaal“ im British Museum zu London, in dem der Exilant Marx jahrzehntelang am „Kapital“ arbeitete (hier in einer Ansicht aus der Zeit um 1880).
Der berühmte „Runde Lesesaal“ im British Museum zu London, in dem der Exilant Marx jahrzehntelang am „Kapital“ arbeitete (hier in einer Ansicht aus der Zeit um 1880).

© Amoret Tanner / Alamy Stock Photo

Die Transformation von Marx zum Marxismus hatte allerdings viele Gesichter und begann spätestens mit seinem Tod. Friedrich Engels hat dazu tatkräftig beigetragen, wie Wilfried Nippel betont. „Wenn Marxismus bedeutet, aus dem Riesen-Torso der Marx’schen Schriften eine zusammenhängende und umfassende wissenschaftliche Theorie zu entwickeln, die zugleich den Schlüssel zur dauerhaften Umgestaltung der Gesellschaft bieten soll, dann war Engels der erste Marxist.“ Er verwaltete den Nachlass von Marx und gab dessen noch unveröffentlichte Manuskripte mit eigenen Ergänzungen und Zuspitzungen heraus. Bereits erschienene Schriften und ihre Übersetzungen gab er mit seinen Vorworten heraus, die Marx nicht nur popularisierten, sondern auch uminterpretierten, damit Politik machten und zum Bestandteil der weiteren Wirkungsgeschichte wurden. Dass die deutschen Sozialdemokraten im Kaiserreich besonders drastische Ausfälle gegen Kollegen und Konkurrenten in den Briefen von Marx, aber auch widersprüchliche Stellen in seinem Werk der Öffentlichkeit vorenthielten, um ihre Mitgliedschaft nicht zu verunsichern, ist wohlbekannt.

Marxismus als große Gegenerzählung zum Nationalismus

Jetzt aber zeigt Christina Morina in einer originellen und sehr gelungenen Studie, wie Sozialdemokraten und Sozialisten seit den 1880er Jahren europaweit an der Uminterpretation und Institutionalisierung Marx’scher Ideen, an der „Erfindung des Marxismus“, arbeiteten. Morina analysiert die Biografien von neun marxistischen Intellektuellen aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter Bernstein und Luxemburg, Adler und Jaurès, Plechanow und Lenin. Sie zeigt, wie und warum sie Marxisten wurden, miteinander kommunizierten und die Lehren des sich herausbildenden Marxismus zuspitzten, ergänzten und verbreiteten. Sie geht der Attraktivität des Marxismus für Reformer und Revolutionäre des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahrungs-, lebens- und ideengeschichtlich nach. Sie schreibt die Geschichte des Marxismus als Geschichte einer Faszination, die Wissen und Macht versprach, das emotionale Bedürfnis nach sozialem Engagement erfüllte und mit ihren kognitiven Ansprüchen jenem „wissenschaftsversessenen Zeitalter“ entsprach.

So entstand der Marxismus als große Gegenerzählung zum kurz vorher „erfundenen“ Nationalismus, der sich aber bei der Eroberung der Welt – dies gegen den Untertitel von Morinas Buch – bis heute als mächtiger erwiesen hat. Marxens Ideen, so Morina, eigneten sich zu alldem auch wegen ihrer Unschärfe. Nachzutragen ist, dass sie sich dabei bis zur Unkenntlichkeit veränderten. So erst erlangte Marx die weltgeschichtliche Größe, an die anlässlich seines 200. Geburtstags hoffentlich nicht zu unkritisch erinnert wird.

Jürgen Kocka, Mitbegründer der „Bielefelder Schule“ der Historischen Sozialwissenschaft, war u. a. Professor an der Freien Universität und Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) sowie Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Träger u. a. des Leibniz-Preises und mehrfacher Ehrendoktor.

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