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Politische Kultur: Bürgerbeteiligung hat gerade erst begonnen

In diesem Jahr haben die Bürger gezeigt, dass sie sich mehr einmischen wollen, ob bei Großprojekten wie Stuttgart 21 oder der Schulreform in Hamburg. Wie reagiert die Politik?

Von Hans Monath

Es war die politische Lehre des Jahres 2010: Jawohl, sie hätten verstanden, mehr Bürgerbeteiligung und neue Mitsprachemöglichkeiten seien dringend notwendig, verkündeten Politiker aller Parteien nach der Eskalation des Konflikts um den Stuttgarter Tiefbahnhof (Stuttgart 21). Auch der Erfolg des Volksentscheids gegen die Schulreform in Hamburg und der Widerstand gegen neue Stromleitungen schreckten viele Volksvertreter auf und ließen das Horrorbild einer „Dagegen-Republik“ aufscheinen, die nicht mehr die Kraft zu notwendigen Erneuerungen aufbringt.

Das Versprechen, die Bürger künftig mehr einzubeziehen, war schnell gemacht. Seine konkrete Umsetzung aber erweist sich als kompliziert und steht auch Ende des Jahres 2010 noch in weiter Ferne. Die Suche nach neuen politischen Instrumenten, die beispielsweise bei der Planung von Großprojekten eine weitere Entfremdung von Bürgern und Politikern verhindern könnten, hat gerade erst begonnen.

Welche Konzepte gibt es?

Als erste Partei legte die FDP-Spitze in der Woche vor Weihnachten einen bundeseinheitlichen Vorschlag zur Reform demokratischer Willensbildung vor, der freilich wegen der Debatte um die Zukunft von Parteichef Guido Westerwelle nur wenig Aufmerksamkeit fand. Das Präsidium der Liberalen befürwortet darin neue Formen der Bürgerbeteiligung, für die es allerdings noch kein fertiges Konzept präsentiert. Modelle der Bürgerbeteiligung sollen zunächst auf allen politischen Ebenen, auch auf europäischer Ebene „erprobt werden“.

Gesetzlich vorschreiben wollen die Liberalen Bürgerbeteiligung nicht. Stattdessen empfehlen sie repräsentativ zusammengesetzte „Bürgerkammern“, die gegenüber Parlamentariern Empfehlungen abgeben sollen. Das Entscheidungsrecht des Parlaments bleibt dabei aber unangetastet.

Auch bei der Planung von Großprojekten sollen die Bürger nach dem Willen der Liberalen mehr Mitsprachemöglichkeiten erhalten – „bis hin zur Option eines Volksentscheids“, wie es in dem Beschluss heißt. Im Gegenzug müsse dann aber das Planungsrecht vereinfacht und das Planungsverfahren wesentlich entlastet und beschleunigt werden.

Was wird in der Union diskutiert?

Einen ähnlichen Zusammenhang von Ausweitung der Beteiligung und Straffung der Genehmigungsverfahren hatte vor Wochen auch der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hergestellt. Er schlug vor, Großprojekte künftig vor Beginn des regulären Planfeststellungsverfahrens von einem „unabhängigen Moderator“ vorstellen zu lassen. Dazu müssten sowohl Landes- wie Bundesgesetze geändert werden. In der Bundes-CDU scheint Mappus’ Vorschlag allerdings wenig Interesse zu finden. Ein Sprecher der Partei sagte, es gebe zu neuen Instrumentarien der Bürgerbeteiligung bisher keine Beschlüsse und auch keine Äußerungen Berliner Spitzenpolitiker der CDU.

Und in der SPD?

Bei den Sozialdemokraten, die schon lange Volksentscheide auf Bundesebene fordern, haben sich ebenfalls vor allem Landespolitiker mit Vorschlägen zu mehr Bürgerbeteiligung hervorgetan. So will der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck den Bürgern bei Großprojekten nicht nur einmal Gelegenheit zur Abstimmung geben, sondern in jedem einzelnen Planungsstadium. Bei Vorhaben von nationaler Dimension, wie beispielsweise bei einem atomaren Endlager, müssten sogar alle Deutschen abstimmen können. Die abgestufte Bürgerbeteiligung will Beck zunächst in den Kommunen seines eigenen Bundeslandes erproben: „Wenn sich das bewährt, können wir initiativ für die Bundesebene werden“, kündigt er an.

Ähnlich argumentiert auch der baden- württembergische SPD-Chef Nils Schmid. Die Bürger müssten nicht nur die Möglichkeit haben, durch einen Bürgerentscheid über unterschiedliche Varianten frühzeitig Weichen zu stellen, fordert er: „Sondern es geht auch darum, die Kompetenz vieler Bürger einzubeziehen, um diese Projekte so gut wie möglich zu gestalten.“ Schließlich habe Stuttgart 21 gezeigt, dass die Bürger die Planung „sogenannter Experten“ entscheidend verbessern könnten.

Wie reagieren die anderen Parteien?

Die Linke sieht sich durch den Konflikt um Stuttgart 21 bestätigt in ihrer Forderung nach Volksentscheiden auf Bundesebene und auch auf europäischer Ebene. „Die Zeit ist so was von reif für Volksentscheide auch auf Bundesebene, dass die Regierung einen riesigen Fehler begeht, wenn sie jetzt nicht den Weg dafür eröffnet“, forderte Gregor Gysi kürzlich und fügte hinzu. „Wir müssen die Demokratie attraktiver machen, um sie nicht zu gefährden.“

Auch die traditionellen Hüter des Basiswillens in der deutschen Politik, die aus den Bürgerbewegungen der 70er-Jahre hervorgegangenen Grünen, arbeiten an Konzepten zu schnelleren Umsetzung der Bürgermeinung. „Wir leben in einer informierten, selbstbewussten Gesellschaft. Da muss sich jede Politik nicht nur durch rechtsstaatliche Verfahren legitimieren, sondern auch durch Bürgerbeteiligung, Transparenz, Verbandsklageregeln, Einsicht in Unterlagen“, sagt Fraktionschef Jürgen Trittin.

In dem Beschluss des Freiburger Parteitags vom Herbst zur vollständigen Umstellung auf erneuerbare Energien bis zum Jahr 2030 haben die Grünen schon einmal festgeschrieben, dass sie beim notwendigen Bau der neuen Stromleitungen die Bürger einbeziehen wollen. Dadurch erhoffen sie sich mehr Akzeptanz für den Eingriff in die Landschaft, gegen die viele lokale Initiativen bereits Front machen. Ein erstes Gesamtkonzept für neue Instrumente der Bürgerbeteiligung soll das von Parteichefin Claudia Roth und dem Europaabgeordneten Sven Giegold geleitete „Zukunftsforum Demokratie“ auf einem Kongress im kommenden Frühjahr vorlegen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Bürger tatsächlich stärker beteiligt werden?

Viel spricht für die These, dass nur weitere Großkonflikte die Parteien dazu zwingen werden, sich auch wirklich auf eine Reform der Bürgerbeteiligung zu einigen. Kurt Becks Vorschlag, in den Kommunen anzufangen, erlaubt Erfahrungen zu sammeln und auf sie zu reagieren. Das aber kostet Zeit – und wenn dann einmal erste Ergebnisse mit neuen Mitspracheinstrumenten vorliegen, könnte Stuttgart 21 längst nur noch eine ferne Erinnerung und keine lebendige Mahnung mehr sein.

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