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Anhänger der vom Verfassungsschutz als klar rechtsextremistisch eingestuften Identitären Bewegung bei einer Demonstration.

© Paul Zinken/dpa

Politikwissenschaftlerin zum Rechtsruck: „Wir sind auf jeden Fall mehr“

Können wir Extremismus und Populismus verhindern? Die Politikwissenschaftlerin Sabine Achour über die Chancen und Grenzen politischer Bildungsarbeit.

Sabine Achour ist Professorin für Politikwissenschaft und Politikdidaktik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie forscht unter anderem zum Potential politischer Bildung für unsere Gesellschaft. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Eindämmung von Rechtsextremismus und Populismus.

Frau Achour, ein NPD-Mann wird im hessischen Altenstadt zum Ortsvorsteher gewählt, die AfD legt bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen kräftig zu, die Zahl rechter Gewalttaten steigt: Wie kommt es ihrer Meinung nach zu diesem Rechtsruck?
Man muss sich natürlich überlegen: Auf welche Sozialisationsprozesse kann gesellschaftlich überhaupt Einfluss genommen werden. Hier ist relativ viel im Bereich von Bildung, sozialer Fürsorge und sogenannter Lebenshilfe, aber auch von politischer Erwachsenenbildung in den vergangenen 20 Jahren nicht so genutzt worden, wie es hätte genutzt werden können. Bestehende Strukturen sind vor allem abgebaut worden. Rechte Gruppierungen haben das daraufhin entstandene Vakuum geschickt mit Identitätsangeboten für sich zu nutzen gewusst.

Rechte Einstellungen sind allerdings nicht unbedingt auf mangelnde Bildung zurückzuführen und kein Phänomen, was plötzlich da ist. Einstellungen entwickeln sich über einen langen Zeitraum. Nicht zuletzt ist auch entscheidend, wie die Mitte der Gesellschaft auf solche Tendenzen reagiert. Was wird als normal angesehen? Was wird in Frage gestellt?

Wie schaffen es rechte Gruppierungen so viele junge Menschen für sich zu gewinnen?
Die rechten Gruppierungen, insbesondere in Sachsen, haben in den vergangenen 20 Jahren bedauerlicherweise ziemlich professionelle Jugendarbeit geleistet. Bestimmte Regelstrukturen, die es im Bereich der Jugendarbeit gab, wurden kontinuierlich abgebaut. Obwohl man seit der Wende über die starken rechten Strukturen im Bereich Jugend- und Sozialarbeit in den östlichen Bundesländern Bescheid wusste, wurde nichts unternommen.

Nicht ohne Grund ist Pegida gerade in Dresden und Sachsen groß geworden und hat gut funktioniert. Man ist dort auf politische Einstellungen getroffen, die schon vorhanden waren und die von politischer Seite auch nie konkret zugegeben wurden. Nach dem Motto: Das ist dort aber auch nicht auffälliger als in anderen Bundesländern. Das sind  auch Ergebnisse einer entsprechenden und eben teils fehlgelaufenen politischen Sozialisation in Sachsen.

Bestimmte Einstellungen wurden auch häufig als Jugendkultur entschuldigt. Dann stand eben in den Neunzigern und Zweitausendern „88“ auf dem T-Shirt oder man trug weiße Schnürsenkel. Kurz nach der Wende etablierten sich in den neuen Bundesländern Narrative wie das Abgehängt-Sein oder „Wendeverlierer“. Diese Narrative haben die Jugendlichen abgeholt, indem jeweils Andere als Verursacher herhalten mussten.

Sabine Achour ist Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung.
Sabine Achour ist Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung.

© promo

Wen sehen Sie in der Verantwortung, den Jugendlichen in abgehängten Regionen neue Chancen zu ermöglichen?
Das ist natürlich die Politik vor Ort. Zudem muss Infrastruktur in Bereichen wie Verkehr, Bildung und Digitalisierung als Mindestangebot jedem Menschen in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen. Im Grunde genommen kann man sich nur fragen, wie eine Grundversorgung so schief laufen konnte. In den meisten Gegenden Europas ist ein Internetanschluss selbstverständlich und wir als Industrienation hinken hinterher. Zumindest scheint dies als Problem für sozialen Zusammenhalt identifiziert zu sein.

Wie sollte in diesen abgehängten Gebieten eingegriffen werden?
Es müssen dringend neue Regelstrukturen und Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Abgesehen davon geht es im Zweifel auch um verlässliche strafrechtliche Verfolgung. Bestimmte Vorfälle werden gar nicht geahndet, etwa wenn Menschen anderer Hautfarbe angegriffen werden. Oder Betroffene trauen sich nicht, zur Polizei zu gehen. Gerade in Brandenburg und Berlin kennt man das.

Die politische Bildung hat jetzt auf Landes-und Bundesebene so eine Art „Revival“. In der AG Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion war sogar von einem bundesweiten Gesamtkonzept politischer Bildung für Kinder und Erwachsene die Rede. Auf Bundesebene wird über das Programm „Demokratie leben“ die außerschulische politische Bildung wieder gefördert.

Was ist die Hoffnung der Träger politischer Bildungsarbeit?
Die Hoffnung ist, dass man über Aufklärung eine Selbsterkenntnis fördern kann. Zum Beispiel, das die eigenen Interessen gar nicht so von der AfD vertreten werden, wie man eigentlich glaubt.

Wie soll die Politik auf die Ängste im Zusammenhang mit der Globalisierung reagieren?
Ich glaube, das politische Bildung auch an dieser Stelle sinnvoll ist. Wie gehen wir eigentlich konstruktiv mit Globalisierungsprozessen um und wo stehe ich dabei als Individuum? Wovor muss ich Angst haben und was ist „Panik-Semantik“? Wir müssen gemeinsam sehen, wohin sich die Dinge entwickeln. Schlussendlich wollen wir alle nicht auf unsere Freiheiten verzichten.

Kann politische Bildung helfen, zwischen den extremistischen Lagern innerhalb der Jugend zu vermitteln?
Politische Bildung ist ganz stark Beziehungsarbeit. Unabhängig von den beiden Gruppen „Fridays for Future“ und „Identitäre Bewegung“ gibt es etliche Themen, die gemeinsam verhandelt werden müssen. Die Jugendlichen von heute müssen morgen gemeinsam die Gesellschaft gestalten. Zentral ist, dass junge Menschen früh lernen, ihre Kontroversen und Interessen auszutauschen und Kompromisse zu finden.

Wo liegen dabei die Schwierigkeiten?
Natürlich ist es für das behütete Akademikerkind, das in Berlin alle Möglichkeiten und Freizeitangebote ausschöpfen konnte, schwer nachvollziehbar, warum jemand aus Brandenburg, der keine Ausgehmöglichkeiten oder Austauschmöglichkeiten mit anderen Jugendlichen hat, ganz andere Sorgen und damit andere politische Ansichten hat.

Zudem ist die Angst vor Fremden da am größten, wo es kaum Fremde gibt. Im Sinne von Allports Kontakthypothese können solche Ängste und Unverständnis nur abgebaut werden, wenn es zum Austausch kommt. „Das, was ich kenne, davor habe ich keine Angst“. Also brauchen wir auch politische Bildung als „Diversity-Education“.

Was waren die Fehler bisheriger politischer Bildungsprogramme?
Das Bundesprogramm „Demokratie leben“ war ganz stark zielgruppenspezifisch. Ganz platt formuliert: Um aus dem Nazi und dem Rassisten wieder einen guten Demokraten zu machen, gab es diverse Projekte. Über diese Zielgruppenspezifikation, die sich immer nur auf Randgruppen fokussierte, hat man vergessen, die „Mitte“ der Gesellschaft mitzunehmen.

Halten Sie unsere Demokratie beziehungsweise unsere offene Gesellschaft durch den derzeit bestehenden Mangel an politischer Bildung gefährdet?
Ich sehe das ambivalent. Es gab seit langer Zeit nicht so viel Interesse an politischer Bildung wie zurzeit. Wir sehen, das es eine große Politisierungswelle gibt, von der wir noch nicht so genau wissen, wo sie hingeht. Es politisieren sich eben nicht nur die Befürworter der Demokratie, sondern auch ihre Gegner. Man muss jetzt abwarten, welches Zukunftsszenario sich letztendlich bewahrheitet. Also, ob es auch so etwas wie eine Enttäuschung in Bezug auf Versprechen der AfD geben wird.

Man sieht deutlich, dass die Menschen, die diese Partei repräsentieren, eigentlich aus ganz anderen Milieus kommen als der Großteil ihrer Wähler. Man fragt sich dann immer: Wann fällt das auf? Auffällig ist auch, dass die AfD keine konkreten Lösungen für die Sorgen ihrer Wähler bietet. Sozialpolitik ist kein großes AfD-Thema.

Es gibt auch Tendenzen in Richtung rechter Terror und rechte Gewalt. Wohin steuert unsere Gesellschaft?
Pegida und AfD haben im Fluchtkontext geschickt eine gesellschaftliche Diskursverschiebung nach rechts bewirken können. Diskriminierende, rassistische oder homophobe Äußerungen fallen in einigen Milieus mittlerweile unter Meinungsfreiheit. Unterschiedliche soziale Gruppen haben kein Problem mehr damit, sich so radikal zu äußern, wie es vor 2015 nicht möglich war.

Auch die Medienberichterstattung war spätestens nach der Kölner Silvesternacht von einer gewissen Panik-Semantik gekennzeichnet. Mit Begriffen wie Krise, Chaos bis hin zu „Messermuslimen“ ist sprachlich in der Gesellschaft etwas vorbereitet worden, das dann auch in Gewalt umgeschlagen ist; etwa, wenn sich Bürgerinnen und Bürger vor Unterkünften versammelten und asylsuchende Menschen bedrohten.

Als Höhepunkt dieser Entwicklung stufe ich den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ein. Natürlich spielte hier auch Social Media eine starke Rolle. Menschen, die sich  permanent in „Echokammern“ bewegen, sehen ihre Ansichten kontinuierlich bestätigt und natürliche Hemmschwellen sinken.

Glauben Sie, dass die Politik Mitschuld an rechtem Terror in Deutschland trägt?
Nicht „die Politik“ hat etwas falsch gemacht. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, welche Tendenzen wir als Bürger in einer offenen Gesellschaft zulassen und welchen Ausgrenzungen wir nicht entgegentreten. Aber natürlich gibt es auch auf politischer Ebene Versäumnisse, besonders wenn wir an den NSU denken. Diese Versäumnisse suggerieren, dass Rechtsterror an staatlichen Institutionen vorbei möglich ist.

Interessant ist, dass mittlerweile der „Rechtsterrorismus“ als Begriff in der breiten Öffentlichkeit verwendet wird. Wir haben in Deutschland ganz lange nicht von rechtem, sondern nur von linkem Terror gesprochen. Es als rechten Terror zu bezeichnen, wenn Nazis Menschen bedrohen, ist ein Novum.

Stichwort Chemnitz: Sind wir mehr?
Wir sind auf jeden Fall mehr. Es geht glaube ich tatsächlich darum, viele, die ihre Stimme noch nicht erhoben haben, mitzunehmen. Der Eindruck, die Gruppe, die gegen Vielfalt und Weltoffenheit ist, sei größer, erklärt sich durch deren starke Präsenz in den sozialen Netzwerken. Insbesondere die „Identitäre Bewegung“ ist ein ganz kleiner Kreis, der aber stark nach Außen hin wirkt. Das ist eine Gruppe, die sehr professionell vorgeht, um den Eindruck zu erwecken, dass sie viele sind und die Unterstützung der Bevölkerung genießen.

30 Jahre Mauerfall: Sehen Sie noch eine Mauer in den Köpfen?
Ich weiß nicht, ob sich das empirisch tatsächlich so halten lässt. Ich finde es interessant, dass nach der Diskussion um Flucht und Migration jetzt die Ost-West Debatte wieder mit einem spaltenden Tenor geführt wird. Beide wurden meines Erachtens sehr stark auch von Seiten der AfD gesetzt. Dahinter steht auch eine Strategie, die zur Spaltung beitragen soll.

Gefühle von Marginalisierung und Abgehängtsein sind kein Differenzmerkmal von Ost und West, sondern vor allem zwischen peripheren und urbanen Milieus und Gegenden. Hier muss die Politik sozialpolitisch aktiv werden. Vielleicht müssen wir 30 Jahre nach dem Mauerfall auch einfach mehr miteinander reden. Ich glaube, als Berlinerin lässt sich das schwer nachvollziehen. Wir sind halt sowohl Ost als auch West.

Laurence Gorodiski

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