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Was ist Wohlstand? Lässt er sich mit dem Bruttoinlandsprodukt noch messen? Ein Schaufenster des Kaufhauses Harrods London.

© promo

Politik und Wirtschaft: Wie zählt man, was wirklich zählt?

Das Bruttoinlandsprodukt hat große Macht. Wirtschaft und Politik entscheiden danach. Das muss – und wird – sich in den 2020ern ändern. Ein Gastbeitrag.

Mark Cliffe ist Chefökonom und Leiter der Abteilung Global Research der ING Group.

Nicht alles, was zählt, ist zählbar und nicht alles, was zählbar ist, zählt. Diese alte Redensart könnte in den 2020er Jahren besonders relevant werden. Noch immer orientieren sich Unternehmen und Politik stark an der Maximierung der Marktleistung, also an rein materiellen, ökonomischen Kennzahlen, wenn sie Politik gestalten oder den Kurs ihrer Unternehmen ausrichten. Doch die Kritik daran wächst. Allein: Ein sinnvoller Ersatz für diese ökonomischen Kennzahlen fehlt bislang.

Noch immer orientieren sich Politik und Wirtschaft stark am Bruttoinlandsprodukt

Die wichtigste Messgröße für den Erfolg von Volkswirtschaften und damit auch einer der wichtigsten Orientierungspunkte für Unternehmenslenker und Politiker ist das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP. Ein möglichst hohes Bruttoinlandsprodukt bleibt eines der wichtigsten Ziele. Allerdings hat diese Kennzahl viele Mängel – und ihre Fehlerhaftigkeit nimmt zu. Das BIP gilt zwar allgemein als verlässlicher und objektiver Maßstab, tatsächlich aber steckt eine komplexe Rechnung dahinter. Die Geschichte des BIP ist geprägt von Fehlern, Kontroversen und Methoden und Definitionen, die sich ständig änderten.

Entwickelt wurde es in den 1930er Jahren von dem Ökonomen Simon Kuznets im Auftrag der US-Regierung. Kuznets hätte es vorgezogen, das Gemeinwohl breiter zu fassen, doch die Regierung hatte ihn beauftragt, eine Messgröße zu entwickeln, auf deren Grundlage man Haushaltspolitik, Besteuerung und Ausgaben gestalten konnte. Und so tat er, wie ihm geheißen wurde.

Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt wächst. Bildet es wirklich ab, wie es einer Volkswirtschaft geht?

Das Grundproblem besteht deshalb bis heute darin, dass das BIP eigentlich nicht wirklich misst, wie es einer Volkswirtschaft geht. Es misst lediglich ihren Output, also das Endergebnis der wirtschaftlichen Aktivitäten – und auch nur das, was sich beziffern lässt. Wenn jemand seine Eltern zu Hause pflegt oder Kinder großzieht, trägt auch das zum Gemeinwohl und zur Prosperität einer Volkswirtschaft bei – erfasst wird es nicht. Negative Nebenwirkungen der wirtschaftlichen Produktion, die Kosten verursachen – etwa die Umweltverschmutzung – werden ebenfalls nicht berücksichtigt. Auch kann man ganz grundsätzlich fragen, ob der wirtschaftliche Output tatsächlich das Wohlergehen der Menschen in einer Volkswirtschaft abbildet. Mehr Geld macht ja nicht immer glücklicher. Untersuchungen zeigen, dass viele Menschen eher auf ihren relativen Status bedacht sind, dass sie also möglicherweise mit weniger zufrieden sind, solange sie mehr haben als andere. Insofern müsste man nicht nur auf den Gesamtwert des Bruttoinlandsprodukts schauen, sondern auch darauf, wie es verteilt ist.

Hinzu kommen eher „technische“ Probleme mit dieser Messgröße: Steigende Preise zum Beispiel können das nominale BIP anheben, auch wenn das Produktionsvolumen nicht zugenommen hat. Außerdem wird die Messung der Produktion immer kniffliger, da sich der Mix und die Merkmale von Gütern und Dienstleistungen immer schneller entwickeln – man denke an die Komplikationen aufgrund der Digitalisierung.

Weder die Verteilung von Wohlstand, noch Nachhaltigkeit werden berücksichtigt

Ein weiteres Problem besteht darin, dass im BIP das künftige Wohlergehen nicht berücksichtigt ist. Wenn die gegenwärtige Produktion auf Kosten der zukünftigen Produktion geht, kann das unser künftiges Wohlergehen gefährden. Zwar berechnen Statistiker auch das Nettoinlandsprodukt unter Berücksichtigung der Abschreibung (also der Abnutzung) physischer Vermögenswerte. Dennoch erfasst auch das Nettoinlandsprodukt nur einen Ausschnitt der Realität. Um ein umfassenderes Bild von der Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Aktivität zu bekommen, müsste man auch Investitionen in Humankapital und die nachteiligen Auswirkungen des Ressourcenverbrauchs berücksichtigen.

Wenn es stimmt, dass man „steuert, was man misst“, sind diese Probleme mit dem BIP besonders beunruhigend, da sie die Regierungspolitik und wirtschaftliche Entscheidungen verfälschen können. Wenn wir darüber hinaus akzeptieren, dass das BIP kein Maßstab für das Gemeinwohl der Gesellschaft ist, müssen wir uns fragen, wessen Interesse es wirklich dient.

Bislang fehlen allerdings gute Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt

Trotz aller dieser Probleme scheint das Bruttoinlandsprodukt vorerst unangefochten. Die Politik findet es nützlich, die statistische Erfassung ist etabliert und manche Ökonomen bezweifeln ohnehin, dass die Verzerrungen im BIP mit der Zeit zunehmen. Schließlich hat das BIP seine Vormachtstellung deshalb beibehalten, weil es an einsatzbereiten Alternativen ohne eigene Mängel fehlt. Alternative Indikatoren gibt es zwar durchaus, doch auch hier ist oft unklar, was sie eigentlich messen: Messen sie, wie es den einzelnen Haushalten geht? Oder messen sie, wie nachhaltig das Vermögen einer Volkswirtschaft ist? Andere Probleme sind eher praktischer Natur: Verfügen wir über die richtigen Daten? Lassen wir irgendwelche Kapitalformen außer Acht, zum Beispiel immaterielle Vermögenswerte und natürliche Ressourcen? Dennoch: Die Mängel des BIP sind offensichtlich. Und der Widerstand gegen politische und wirtschaftliche Eliten, die davon besessen sind, wächst – das zeigt die allgemeine Elitenskepsis der vergangenen Jahre. Wir brauchen also Alternativen. Die Digitalisierung erschwert es, das BIP zu messen – doch sie könnte helfen, neue Indikatoren zu entwickeln. Die Datenerfassung explodiert schließlich – und viele Daten liegen in Echtzeit vor und sind mit einem geographischen Ort verbunden – können also einer Volkswirtschaft zugeordnet werden.

Auch bei der Bewertung von Unternehmen werden zunehmend ethische und soziale Werte herangezogen

Und nicht nur zum Bruttoinlandsprodukt dürften sich Alternativen entwickeln. Auch die Kennzahlen, an denen sich Unternehmen messen lassen, werden immer vielfältiger. Einst wurden Quartalszahlen und Jahresabschlüsse in einfacher, standardisierter Form vorgelegt. Heute schauen viele Analysten und Aktionäre nicht nur auf die nackten betriebswirtschaftlichen Zahlen, sondern etwa auch auf Nachhaltigkeitsindikatoren. Der „Business Roundtable“, eine Organisation amerikanischer Manager, hat außerdem im August 2019 eine sehr grundlegende Veränderung angekündigt: Nicht nur Aktionäre sollen in Zukunft von dem Mehrwert profitieren, den ein Unternehmen produziert, sondern auch dessen Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und die Gesellschaft. Dies ist nicht das erste Mal, dass sich Unternehmen dazu bekennen, über die kurzfristige Rentabilität hinauszudenken. Doch mit Beginn des Jahres 2020 – und inmitten eines sich buchstäblich und im übertragenen Sinne verschlechternden Klimas – stehen Unternehmen und Politik gleichermaßen unter Druck, das gesellschaftliche Wohlergehen zu verbessern. Um das zu schaffen, gilt es herauszufinden, wie man zählt, was wirklich zählt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier. Copyright: Project Syndicate, 2019. www.project-syndicate.org

Mark Cliffe

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