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Hallo Realität! Martin Schulz besuchte während des Wahlkampfs eine Fischräucherei in Eckernförde.

© picture alliance / Carsten Rehde

Politik und Alltag: Liebe Politiker, machen Sie doch mal ein Praktikum!

Politik gilt vielen als Elitenbeschäftigung, der die Realitätsnähe fehlt. Das sollte sich ändern. Wie Politiker im neuen Jahr der Realität näherrücken können - eine Kolumne

Eine Kolumne von Caroline Fetscher

Am Anfang hatte der neue Direktor einen Plan. Der Verwaltungsfachmann wurde vor einigen Jahren zum Leiter eines größeren Betriebs bestellt. Um Abläufe und Angestellte besser kennenzulernen, so hatte er sich vorgenommen, würde er in jeder Abteilung jeweils eine Woche den Alltag erfahren, mitarbeiten, Eindrücke sammeln – sein Praxis-Plan. Er freute sich drauf, die Belegschaft auch. Da zeigte ein Boss mal konkretes Interesse!

Den Rest braucht man eigentlich nicht zu erzählen. Der Chef bezog seinen Chefsessel. Dann kam die Post. Dann kamen Akten, E-Mails, Anrufe, Umlaufmappen, dann Sitzungen mit Gremien, Beiräten, Vorständen, Justiziaren, dann Termine außer Haus. Tag für Tag zerbröselte das Vorhaben mehr. Aus dem frischgebackenen Plan wurde ein trockenes Brötchen. So was passiert beim Aufeinanderprallen von Wunsch und Wirklichkeit, wenn der Reibungsfunke nur kurz „keine Zeit!“ zischt.

Mitgliedern der politischen Funktionselite wird zunehmend vorgehalten, sie hätten wenig oder keine Ahnung vom Alltag normaler Leute. Je mächtiger, je weiter oben, desto entrückter scheinen Politiker, trotz ihrer Schlüsselverantwortung für Institutionen, Wirtschaft und Bildungsapparat. Ihre Welt besteht aus – nun, ja – Akten, E-Mails, Anrufen, Sitzungen, Umlaufmappen, Tweets und „Sprechzetteln“ mit medientauglichen Sätzen. Daneben plagen sie sich herum mit Personalfragen, Imageproblemen, Intrigen, Interviews und Fototerminen. Viele sind enorm fleißig, viele guten Willens.

Doch für die Begegnung mit der Realität bleibt im Reich der in Deutschland gern „Sachzwänge“ genannten Umstände kaum Raum. Ergo schrumpft erheblich der Kontakt zum in die Ferne gerückten, großen Außerhalb und übrig bleiben Stippvisiten in der Wirklichkeit. 2017 besuchten Politiker viele, viele Orte wie eine Matratzenfabrik, die Südzuckerwerke, eine Fischräucherei oder Altersheime und Kindergärten. Während des Wahlkampfs taten sie sich besonders mit Zaungast-Ausflügen in die Wirklichkeit hervor. In den sogenannten Arenen mit Bürgergespräch improvisierten sie guten Rat, etwa gegenüber einer Reinemachefrau, die sich fürs Alter etwas ansparen solle, um über die Runden zu kommen.

„Menschen draußen im Lande“, wie Helmut Kohl die Bevölkerung gern nannte

Auch beim guten, besten Willen boten solche Begegnungen nur zu oft Futter für das Vorurteil der „abgehobenen“ Kaste der Entscheidungsträger, die wie aus einem Heißluftballon oder aus den Wolken auf die verschwommenen Niederungen des Landes herabblicken und wenig Konkretes vom Boden der Tatsachen mitbekommen, von den „Menschen draußen im Lande“, wie Helmut Kohl die Bevölkerung gern nannte.

Wer sich ein dreidimensionales Bild davon machen will, was in der alltäglichen Realität geschieht, der braucht mehr als die drei Stunden Werksbesichtigung an der Seite eines Firmenchefs. Wer wissen will, was passiert, braucht teilnehmende Beobachtung. Das mag utopisch klingen – siehe „Sachzwang“. Es ist aber möglich. Ein politischer Pionier solcher Feldforschung im eigenen Land ist Klaus Bouillon, Jurist und CDU-Innenminister des Saarlands.

Im Sommer 2015, während des Flüchtlingsandrangs, verlegte er seinen Arbeitsplatz in die Landesaufnahmestelle für Geflüchtete: „Ich habe einen Bürocontainer direkt neben der Registrierstelle aufgestellt, und von dort aus gearbeitet.“ Drei Wochen lang erhielt der Politiker Anschauung davon, was „Verordnungen“, „Maßnahmen“ oder „Zuteilungen“ für Leute bedeuten, Flüchtlinge wie Helfer bekamen für ihn Gesichter, bürokratische Abläufe konkrete Substanz.

Kein Zweifel, makropolitisch notwendig sind noch viel weiter reichende politische Visionen. Doch von diesem einen, mikropolitischen Praxistraum lässt sich sagen: Das geht gleich. Das lässt sich umsetzen, sofort. Es muss nur der politische Wille da sein. Anstelle von Stippvisiten sollten Politikerinnen und Politiker jährlich mehrere Praxistage an für die Gesellschaft relevanten Orten und Behörden verbringen: In Jobcentern, Kliniken, Finanzämtern, auf staatlichen Großbaustellen oder sozialen Großbaustellen wie Brennpunktschulen oder Organisationen zur Deradikalisierung, bei der Telefonseelsorge und in Haftanstalten.

Hunderte umsetzbarer Vorschläge mehr kann es geben. Ihr Leitmotiv ist: Raus aus den Stahlbetonbauten der Administration, fort von den Fluren mit ihren Aktenkarren, rein in die Sphäre der Realität. Es wäre ein kleiner Schritt für die Politik, und ein großer für die Bevölkerung. Machen Sie 2018 den Anfang!

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