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Alle für alle. Im Verein zum Beispiel kann Vertrauen und Verbindendes entstehen.

© imago/Westend61

Politik in der Krise: Was hält die Gesellschaft eigentlich noch zusammen?

Der verbindende Gesprächsstoff geht aus, große Organisationen verlieren Einfluss und Mitglieder - da muss der Zusammenhalt woanders herkommen. Zum Beispiel von unten. Ein Essay.

Ein Essay von Friedhard Teuffel

Ist ja nur ein Spiel. Damit hat sich der fußballfreundliche Teil dieses Landes in den vergangenen Tagen vielleicht ein wenig getröstet nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalelf. Aber: Der Satz ist falsch. Zum Glück ist Fußball nicht nur ein Spiel. Selbst wer die WM in Russland für ein Schaulaufen von gegelten Millionarios hält, wird zugestehen müssen, dass hier etwas Besonderes passiert. Der Fußball erzeugt ein Tagesgespräch, an dem unzählige Menschen teilnehmen, die sich sonst nicht viel zu sagen hätten.

Es gibt nicht mehr so furchtbar viele Themen, die das noch schaffen. Und dabei mühelos die Grenzen von politischen Lagern und sozialen Milieus überwinden. Weil es auch um Einstellungen und Haltungen geht. Der Fußball lässt sich nicht in eine Filterblase oder Echokammer zwängen, er ist zu groß dafür. Das sind sonst vor allem Naturgewalten und alles Unvorhersehbare wie ein Stromausfall oder die Suche nach dem Ehec-Erreger im Gemüseregal. Meist keine schönen Anlässe. Man kann über solche Dinge gemeinsam klagen. Und sich im besten Fall untereinander helfen, etwa wenn der Keller vollgelaufen ist. Beides verbindet.

Doch es gibt eine Entwicklung – das Verbindende verliert. Wenige dürften diese Entwicklung tiefer durchdrungen haben als der Soziologe Andreas Reckwitz. Das Allgemeine steckt in der Krise, schreibt der Professor der Viadrina-Universität in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“. Vereinfacht zusammengefasst: Bis in die 70er Jahre gab es noch allgemein akzeptierte Normen und Werte, allen voran das Leistungsprinzip, die meisten Menschen strebten nach dem Reihenhausglück, es gab lineare berufliche Biographien und einen Kanon, was kulturell wertvoll ist.

Der Wettkampf der Besonderheiten

Und heute? Zählt das Besondere, das Singuläre. Es wird ständig neu auf- und abgewertet, die Gesellschaft handelt hier als Publikum, und nicht nur jeder einzelne, sondern auch immer mehr Institutionen sind versucht, in diesem Wettkampf der Besonderheiten mitzuspielen. Jede Grundschule meint inzwischen, ein bis ins Kleinste ausdifferenziertes Profil ausbilden zu müssen. Hauptsache Trennschärfe. Die ehemals großen, gestaltenden Institutionen sind dagegen allesamt auf dem Rückzug: Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Sie werden abgelöst von Projekten und Netzwerken, denn die funktionieren nach der neuen Logik, sich ständig neu aufladen zu können.

Die katholische Kirche etwa zerfällt in einzelne Milieus. Jeder will seine eigene Ansprache bekommen. Volksparteien erreichen das Volk nicht mehr. Es verfestigen sich Parallelgesellschaften. Die digitalen Möglichkeiten wirken in dieser Entwicklung als Beschleuniger. Der ehemals integrative Mechanismus der Massenmedien hat sich in einen parzellierenden verkehrt. Das kann auch der „Tatort“ am Sonntagabend nicht wettmachen. Um noch einmal zum Sport zu kommen: Olympische Spiele haben anders als die Fußball-WM ihren Status als gesellschaftliches Lagerfeuer eingebüßt. Wer sich überhaupt noch dafür interessiert, sucht sich seinen bevorzugten Wettbewerb in einem der vielen Einzelkanäle heraus. Dass noch einmal ein Ringer-Olympiasieg ins kollektive Gedächtnis eingeht, wird da sehr unwahrscheinlich. Das Großereignis zerbröselt in viele kleine. Wie soll da noch ein gemeinsamer Erinnerungsschatz angelegt werden?

Mehr als Communities und Special Interest

Na und? Könnte man einwenden. Jeder bekommt eben, was er will. Ein Marktplatz für alle ist doch Mittelalter. Dafür gibt es heute Freiheiten, Ausdifferenziertheiten, Selbtsbestimmtheiten.

Alles schön und gut, nur deuten Indizien darauf hin, dass Verbindendes dringend gebraucht wird. Eines davon ist die anschwellende Lautstärke des politischen Streits, ein ähnliches der Hass im Netz, ein weiteres und härteres die Komplexität und Größe der Herausforderungen, sei es die Neugestaltung der Arbeitswelt, die Migration oder der Umweltschutz. Die Frage ist, ob zunehmende Unverbindlichkeiten nicht einen sumpfigen Boden bilden, auf dem die Gesellschaft langsam einsinkt und immer unbeweglicher wird.

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Muss Gesellschaft nicht mehr sein als die Summe aus Communities und Special Interest-Gruppen? Reckwitz, ganz Wissenschaftler, stellt schlicht ein Bedürfnis nach dem Allgemeinen fest. Das Allgemeine, auf das sich viele verständigen können, das Allgemeine als gemeinsam Geteiltes. Gefunden hat er dieses Bedürfnis in der politischen Debatte, auf der Ebene der Gerechtigkeit und der Integration. „Das Gerechtigkeitsproblem äußert sich in einer Krise der Anerkennung. Nach dem Ende der nivellierten Mittelstandsgesellschaft haben wir eine Auseinanderentwicklung von Schichten, von Milieus, von Klassen. Und es ist charakteristisch für die postindustrielle Gesellschaft, dass sich da eine Spreizung, ja Polarisierung ausbildet zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten, Festangestellten und Prekären“, sagt Reckwitz. „Auch die Frage nach der gesellschaftlichen Solidarität stellt sich hier neu.“

"Man muss Demokratie von unten bauen"

In den 70ern gab es noch den unangefochtenen Wohlfahrtsstaat. Der ist hier nicht mehr erkennbar. Auch weil es in der Gesellschaft der Singularitäten eine Unterklasse gibt, die durch ihre Dienstleistungen ermöglicht, dass andere ihr Leben kommod führen können. Diese Menschen werden immer weniger „gesehen“. Damit gehe, so Reckwitz, eine Entwertung ihres ganzen Lebensstils einher, diese Menschen werden „von Fortschrittshoffnungen abgekoppelt“.

Ein zweites Problem besteht für Reckwitz in der Integration, „wenn es um die Folgen von Migrationsprozessen geht, aber auch darüber hinaus zwischen den Milieus der Gesellschaft und ihren kulturellen Normen. Es stellt sich die Frage, welche Grundwerte, welche allgemeingültigen Normen die Gesellschaft hat. Dies betrifft etwa auch die Frage, wie sich Menschen im öffentlichen Raum verhalten – was auch den digitalen Raum und das Problem der dortigen Aggressivität einschließt.“

Mehr Identitätsraum für einzelne

Die Identitäts- und Heimatdebatte ist mehr als eine Dunstglocke: Der Verlust von Allgemeingültigkeit greift weit um sich. Für Reckwitz geht es ohnehin bei Gerechtigkeit und Integration „um das gleiche Problem: um die Frage der Regulierung von Prozessen, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch Öffnung und Deregulierung gekennzeichnet sind. In der jetzigen Situation geht es darum, diese Prozesse wenn nicht zu bremsen, so doch zu strukturieren – auch durch den Staat und seine Institutionen.“

In den vergangenen Jahren ging sehr viel politische Energie dafür drauf, den Identitätsraum des einzelnen immer besser zu schützen, auch von bisher benachteiligten Gruppen, etwa wenn es um sexuelle Identität geht. Individuelle Freiheiten dürften selten größer gewesen sein. Das ist eine Errungenschaft. Gleichzeitig sind jedoch die großen gesellschaftlichen Gruppen und Themen vernachlässigt worden, die der Gesellschaft bisher säulenhaft Halt gegeben haben. Das Partikulare wirkte so bedeutender als das Allgemeine. Und vieles von dem, was nun angesichts schwankender politischer Umfragewerte und Krisenstimmung hektisch unternommen wird, um die Mitte wieder zu stärken und Gemeinsamkeiten zu schaffen, kann da nur wie Hauruck-Politik wirken.

Der Staat hat Steuerungshebel abgegeben

Auf vielen Feldern hat der Staat seine Steuerungsmöglichkeiten selbst beschränkt. Weil Wohnungsbaugesellschaften verkauft wurden, fehlt jetzt der Hebel, um gerade in Ballungszentren neuen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Und auch sozial gemischte Stadtteile zu fördern – als Bausteine für gesellschaftlichen Zusammenhalt. In der Bildung füttern marode Schulgebäude und Lehrermangel die Initiativen für Privatschulen.

Wenn es der Politik aber so schwerfällt, das Allgemeine zu schaffen, wer bleibt dann noch übrig? Wer und was soll die Gesellschaft heute noch zusammenhalten? Darauf hat Edgar Grande vom Wissenschaftszentrum Berlin eine Antwort, die er teils empirisch begründen kann, die aber auch von großer Hoffnung getragen ist: Es ist die Zivilgesellschaft. Der Professor für Politikwissenschaft forscht dazu und sagt: „Man muss Demokratie von unten bauen.“

Die Bedingungen dafür sind nicht einmal schlecht. Je nach Definiton und Erhebung engagieren sich in Deutschland bis zu 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ehrenamtlich. „Es gibt den Wunsch nach Beteiligung, in der Stadtgestaltung, im Sozialen und Politischen, und damit sind keine Leserbriefe gemeint“, sagt Grande. Nur seien es eben andere Beteiligungswünsche als früher und sie könnten auch nicht mehr erfüllt werden von den „alten Großgruppen der Industriegesellschaft“, also Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, denn die seien mit ihren starren Organisationsstrukturen oft überfordert.

Wo das Soziale immer wieder eingeübt werden kann

Auch Grande sieht das Allgemeine in der Defensive. „Die alten Verfahren waren darauf ausgerichtet, dass sich die politischen Eliten auf alles verständigt haben. Die Distanz zwischen Bürgern und Politik ist größer geworden. Es gibt eine Repräsentationskrise.“ Die Antwort darauf müsse nun sein, dass die alten Eliten zum einen neue Verfahren suchen, um die Bürger einzubinden. Das können Bürgerforen sein, Mitbestimmungsformen auch für Nicht-Parteimitglieder, Kooperationen mit Nicht- Regierungsorganisationen. Townhall-Meetings sind da eine besonders sichtbare Form. Hier bekommt das Zuhören einen neuen Stellenwert ebenso das Artikulieren von Positionen auf Augenhöhe. Und die Dynamik, die daraus entstehen kann, hat der Hamburger Pfleger Alexander Jorde verkörpert, indem er mit seinen Fragen an Angela Merkel der ganzen Misere des Pflegens ein Gesicht gab und vor allem eine starke Stimme. Zum anderen schaut Edgar Grande ohnehin lieber gleich auf die Basis, auf das, was nachwächst am Nährboden für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dabei hat er einen auf den ersten Blick paradoxen Prozess beobachtet: „Die Individualisierung führt zu neuen Abhängigkeiten und erzeugt neue Vernetzungen.“ Ein Beispiel? Die Kinderbetreuung. Wenn gerade in Großstädten beide Elternteile berufstätig sind, die Großeltern weit entfernt leben und Betreuungsmöglichkeiten fehlen, kann neues soziales Engagement entstehen, durch Elterninitiativen. „Teilweise fängt dies das Weggefallene auf“, sagt Grande. Der Erziehungs- und Bildungsbereich sei dabei modellhaft, etwa mit dem schönen Begriff der Schulgemeinschaft. Dazu gehören eben alle, die Schüler, die Lehrer und die Eltern. Im gemeinsamen Kümmern steigt auch das Verantwortungsgefühl. Doch wenn Schule immer selektiver wird statt integrativ zu sein, wird das Allgemeine schon von klein auf geschwächt.

Schule: Ort des Mangels oder der Allgemeinheit?

Hier treffen sich übrigens Grande und Reckwitz. „Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob die Schulen eher ein Ort der Mangelverwaltung und Desintegration sind und man zwischen ihnen immer neue Wettbewerbe inszeniert, wie man es in den letzten Jahren getan hat“, sagt Reckwitz, „oder ob man sie grundsätzlich als Ort des Allgemeinen, als Ort der Vermittlung von Kompetenzen und Einübung von Normen für die gesamte nachwachsende Gesellschaft selbstbewusst formt.“ Ihm dränge sich der Verdacht auf, dass die Vermittlung von allgemeinen Kompetenzen, eines „Wissens- und Orientierungskanons“ immer schwächer geworden ist. „Natürlich: Die Schulen sollen jeden Einzelnen in seiner Besonderheit fördern und auch selbst besondere Schwerpunkte setzen können. Trotzdem sollte ein allgemeines Orientierungswissen vermittelt werden, auf dem dann auch politische Willensbildung aufbauen kann.“

Es geht dabei nicht um eine Einheitsschule, sondern darum, dass allgemein wichtig erachtetes Wissen und Können in den verschiedenen Schultypen gelernt werden kann. Was dieses Wissen und Können ist, muss immer wieder neu ausgehandelt werden, auch wenn das die Gesellschaft ganz schön anstrengt. Es sei eben nicht so, sagt Reckwitz, dass das allgemein Geteilte wie in der Vorstellung mancher Konservativer schon immer da war und einfach nur weitertradiert werden muss.

Dieses Aushandeln wird auf jeden Fall leichter, wenn es offene und vitale Foren gibt. Foren für persönliche Gespräche. Foren, die Gräben von Milieus überbrücken können. Das schafft noch keine Entscheidungen, aber es wirkt vertrauensbildend und verbindend. Welche das sind? Die Vereine beispielsweise. In manchen Bereichen sind auch sie gefährdet, Gesangsvereine haben schwer zu kämpfen, gesungen wird freilich weiter, dann eben in Chorprojekten.

Viele verlieren - die Sportvereine gewinnen

Auch Sportvereine haben Konkurrenz bekommen durch immer mehr kommerzielle Anbieter und neue individuellen Bewegungsformen. Doch während andere große Institutionen in den vergangenen Jahren hunderttausende Mitglieder verloren haben, ist die Zahl der Mitgliedschaften im Deutschen Olympischen Sportbund auf 27 Millionen angewachsen.

Die verbindende Kraft der Sportvereine liegt auch darin, dass die Spielregeln von allen Seiten verstanden und akzeptiert werden. Sie müssen nicht erst bestimmt werden. Niemand stellt beim Anpfiff die Zahl der Spieler beim Fußball in Frage oder die Länge von Leichtathletikstrecken. Dafür muss die Akzeptanz von Entscheidungen, also das Soziale, der Geist hinter den Regeln, das Fairplay, immer wieder neu eingeübt werden, wie unter anderem Attacken auf Schiedsrichter zeigen.

In Vereinen können so die Muskeln und die Ausdauer der ganzen Gesellschaft trainiert werden.

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