zum Hauptinhalt
Bisher kann man unkontrolliert durchfahren: Die Grenze zu Nordirland.

© Mariusz Smiejek/dpa

Planlos in den Brexit: Großbritannien bekommt das Paradox der irischen Grenze nicht gelöst

Nach dem Brexit sind Grenzkontrollen nötig, doch die würden den Nordirland-Konflikt anheizen. Johnson setzt auf technische Lösungen, die brauchen aber Zeit.

Die jetzt von Premierminister Boris Johnson erneut ins Spiel gebrachten „alternativen Arrangements“ für die künftige innerirische Grenze kursieren als Begriff bereits seit längerem im Londoner Regierungsviertel Whitehall. Im Frühsommer 2018 wurden sie als „maximale Erleichterung“ gehandelt. Dass sich die damalige Regierung von Theresa May am Ende für die Alternative, den Backstop, entschied, lag unter anderem daran, dass die konkreten Maßnahmen der maximalen Erleichterung vage blieben.

Seither haben Brexiteers immer wieder versucht, das Konzept zu konkretisieren. Gelegentlich verlegen sie sich auch darauf, das psychologische Problem der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik im Süden herunterzuspielen.

So wiegelt beispielsweise eine vom Thinktank Policy Exchange herausgegebene Expertise des Politikprofessors Lord Paul Bew ab: Einige, auf das Mindestmaß beschränkte Grenzkontrollen sollten für alle Beteiligten akzeptabel sein. Schließlich habe der reibungslose Handel über die Staatsgrenze hinweg mehr mit der Einführung des EU-Binnenmarktes 1992 zu tun als mit dem Karfreitagsabkommen sechs Jahre später, an dessen Entstehung Bew als Berater des damaligen Unionistenführers David Trimble (heute Mitglied der konservativen Partei) beteiligt war.

Dieses Argument stößt zum einen bei den Nationalisten auf wenig Gegenliebe. Zum anderen stellt sich ein argumentatives Problem: Wenn die „unsichtbare Grenze“ tatsächlich vor allem dem Binnenmarkt zu verdanken ist, muss im Umkehrschluss Großbritanniens Austritt den Fortschritt zunichte machen.

Grenze zwischen den USA und Kanada könnte als Vorbild dienen

Deutlich ernster zu nehmen ist der Bericht einer Experten-Kommission, die in diesem Frühjahr im Auftrag der Gruppierung Prosperity UK konkrete Vorschläge für die „alternativen Regelungen“ erarbeitete. Eine prominente Rolle spielte dabei Shanker Singham, einer der wenigen Handelsexperten Großbritanniens, die dem Brexit positiv gegenüberstehen.

Den Vorsitz führten die beiden Tory-Abgeordneten Nicola Morgan und Greg Hands. Morgan war zuletzt Vorsitzende des Finanzausschusses im Unterhaus und dient seit Juli als Kulturminister im Kabinett von Boris Johnson, Hands war Finanz-Staatsminister und zwei Jahre lang Staatssekretär im Außenhandelsministerium. Beide haben 2016 für den EU-Verbleib gestimmt, unterstützten aber das Austrittspaket der früheren Premierministerin Theresa May.

Der mit Anhang 272 Seiten lange Kommissionsbericht spricht detailliert über technische Lösungen, welche eine weitgehend offene Grenze garantieren sollen. Diskutiert werden auch die Arrangements an anderen Grenzen, obwohl „eine dauerhafte Lösung“ nicht darin bestehen können, einfach die anderweitig bestehenden Maßnahmen auf Irland zu übertragen. Lobend erwähnt wird beispielsweise das „CSA-Platin“-Programm an der Grenze zwischen Kanada und USA. Unternehmen im Grenzverkehr haben dabei mit den Zollbehörden nur indirekt zu tun: Sie füllen Selbsteinschätzungen aus wie eine Steuererklärung.

Im Trusted-Trader-Verfahren gibt es Kontrollen nur stichprobenartig

Dieses sogenannte Trusted-Trader-Verfahren sei gerade für größere Unternehmen sehr gut geeignet. Es beruht auf dem Vertrauensprinzip, wie es beispielsweise die britische Steuerbehörde auch gegenüber Ein-Mann-Unternehmern gelten lässt: Bis zum Beweis des Gegenteils wird die Korrektheit der vorgelegten Papiere angenommen, Kontrollen gibt es höchstens stichprobenartig.

Als Beispiel für mögliche künftige Grenzregelungen wird auch die sogenannte „smart border“ zwischen Schweden und Norwegen genannt. Diese beruht darauf, dass Grenzgänger mittels ihres Smartphones die Behörden auf den Anlass ihrer Fahrt aufmerksam machen und allenfalls mitgeführte Waren wie Zigaretten oder Alkohol wahrheitsgemäß deklarieren. Ein umfangreiches Netzwerk von Überwachungskameras überprüft die Nummernschilder der durchfahrenden Kraftfahrzeuge. Alarm wird etwa dann ausgelöst, wenn ein Fahrzeughalter schon einmal den Behörden wegen Alkoholschmuggels aufgefallen ist.

„Es handelt sich nicht um einen No-Deal-Plan“

Zu den Einzelvorschlägen gehört eine flexible Handhabung der teils schon heute, teils erst in der Zukunft notwendigen Grenzkontrollen. So soll die Einhaltung der Gesundheits- und Pflanzenschutznorm von mobilen Einheiten im Hinterland der Grenze überwacht werden. Dazu könne man den geltenden EU-Zollkodex nutzen, heißt es in dem Bericht.

Hingewiesen wird auch darauf, dass viele Handwerker und Lieferanten – oft Ein-Mann-Betriebe, die auf beiden Seiten der Grenze ihr Geld verdienen – zu wenig umsetzen, um bei den Finanzbehörden für Umsatzsteuer registriert zu sein. Rund 6000 Betriebe hingegen liegen über der entsprechenden Umsatzgrenze; sie füllen schon bisher die notwendigen Formulare aus.

Die Einführung des Trusted-Trader-Verfahrens werde „12 bis 15 Monate“ dauern, glaubt der Kommissionsvorsitzende Hands, andere Maßnahmen würden bis zu drei Jahre dauern. Eine Übergangsphase, wie das Austrittspaket sie vorsah, bleibt also unabdingbar. „Es handelt sich nicht um einen No Deal-Plan“, betont Hands. Vielmehr böten die „alternativen Regelungen“ die Grundlage für ein Abkommen, dem alle Beteiligten zustimmen könnten.

Die Schlussfolgerungen der Kommission unterscheiden sich von vielen optimistischen Aussagen von Brexiteers, die das Problem kleinreden. Ohne Reibungsverluste und begrenzte Kontrollen, an der Grenze selbst oder weiter entfernt, werde es nicht abgehen. Genau dies betonen auch Skeptiker wie Irlands Premierminister Leo Varadkar oder EU-Ratspräsident Donald Tusk: Großbritannien habe bisher keine tragfähige Lösung vorgelegt.

Zur Startseite