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Mit Worten jonglieren. Hartmut Semken (li.) Anfang März bei der ersten Sitzung des Berliner Piraten-Landesvorstands.

© dapd

Piraten und die Streitkultur im Netz: Beleidigungen statt Argumente

In Umfragen sind die Piraten so beliebt wie nie. Dabei haben sie vor ihrem Parteitag ein Abgrenzungsproblem und eine Nazi-Debatte. Wie die Streitkultur im Netz ihre Politik bremst.

Nicht freigegeben für Personen „unter einem IQ von 110“, mit dieser Botschaft begrüßt Hartmut Semken Besucher auf seiner Webseite. Man weiß nicht, ob es Warnung oder Anreiz sein soll. Ob es nur arrogant oder schon wieder witzig ist. Überhaupt verstehen viele Menschen in diesen Tagen Hartmut Semken, den Berliner Landesvorsitzenden der Piratenpartei, nicht. Das hat mit ihm selbst zu tun, aber vielleicht noch viel mehr mit seiner Partei.

Bisher hat nur Eingeweihte interessiert, was Semken auf seinem Blog veröffentlicht. Er berichtet da aus seinem Leben als Pirat, „Nerd und Netzversteher“, über Datenschutz und Verschlüsselungstechnologien. Am Sonntagabend aber wollte Semken den Piraten eine Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, entgegenbrüllen, und er ahnte nicht, dass bald viele Menschen zurückbrüllen würden.

Gerade erst hatten die niedersächsischen Piraten die Aufstellung eines Kandidaten für die Landtagswahl annulliert, weil der gefordert hatte, Holocaust-Leugnung zu erlauben und „Mein Kampf“ für den freien Verkauf zuzulassen. Die Piraten hatten ein Abgrenzungsproblem, sie mussten die Frage beantworten, ob ihre rechte Flanke offen sei. Plötzlich reichte es Semken: „Es sind die ,Rausschmeißen’ und ,wir müssen uns abgrenzen’ immer-wieder-Herunterbeter, die das Naziproblem der Piraten darstellen.“ So schrieb er es am Sonntagabend, es war schon spät, wahrscheinlich zu spät.

Seitdem muss Semken sich gegen den Vorwurf wehren, er verteidige rechtsradikale Ideen. „Nazipirat“, so nennt ihn Kritiker Glamypunk auf Twitter, was englisch ist und Zwitschern heißt. Herzmut fragt: „Hat man außer Naivität gegenüber menschenfeindlichen Meinungen sonst etwas von dir zu erwarten?“ HerrLlama schreibt: „#seufz #semken #nazis #arschloch“. Einen Shitstorm nennen Piraten so etwas. Wenn nicht mehr argumentiert, sondern nur noch enthemmt beleidigt wird. „Echt mal. Du könntest wenigstens AB UND ZU deinen Kopf zum Denken benutzen bevor du die Hände benutzt.“ Das schrieb Oliver Höfinghoff, Abgeordneter im Berliner Landesparlament. Er ist einer der drei Piraten, die Semken am Donnerstag in einem offenen Brief zum Rücktritt aufgefordert haben. Der hatte sich davor bereits entschuldigt. Aber das genügte nicht.

Von Einzelfällen hatte Semken gesprochen mit Blick auf die rassistischen Ausfälle in den eigenen Reihen. Prompt wurde eine Internetseite installiert, um rassistische, aber auch frauenfeindliche und homophobe Beleidigungen zu sammeln – und zu zeigen, dass sie mehr sind als bloß Ausnahmen. Auch eine Äußerung des Berliner Abgeordneten Alexander Morlang tauchte da auf. Er hatte die ehemalige Bettgefährtin eines Piraten als „Ex-Fickse“ bezeichnet, will das aber nicht beleidigend gemeint haben. Wie viel sagt die Rohheit der Sprache über den Politikstil aus?

Der Umgang mit Semkens Fall und die Dynamik, die seine Worte entfalteten, sind symptomatisch für die Lage, in der sich die Piraten befinden. In anderen Parteien werden derartige Auseinandersetzungen für gewöhnlich verschwiegen ausgetragen. Aber bei den Piraten ist nichts gewöhnlich. Soll es auch nicht sein. Sie wollen den Beweis antreten, dass sich Demokratie dank des Internets neu organisieren lässt, zum Mitmachen für alle.

Schon am Montag ließ sich das beobachten, dem Tag nach Semkens Einwurf, als unter seinen Parteifreunden zum ersten Mal die Idee zirkulierte, ihn auf einem Sonderparteitag aus dem Amt zu treiben. Wer einen Tag wie diesen ganz normalen Montag nutzte, um zuzuhören und mitzulesen, bekam eine Ahnung davon, was die Piraten im Netz und mit dem Netz erreichen wollen. Und was sie bremst.

Schatzmeister Brosig zieht seine Kandidatur zurück

Für Parteichef Sebastian Nerz beginnt dieser Montag mit einem Schock, das verkündet er auf Twitter. Es dauert nur Sekunden, bis Martin Delius, parlamentarischer Geschäftsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, antwortet. „Worum gehts?“ Von Nerz kommt keine Antwort.

Derweil macht Jasmin Maurer, Spitzenpiratin aus dem Saarland, eine Ankündigung. „Gleich beginnt unsere Fraktionsgründung“, twittert sie. Ein Klick auf den Link, den Maurer schickt, und ein Live-Stream beginnt. Wahrscheinlich wollen nur Feinschmecker zusehen, wie diese vier Piraten beieinandersitzen. Bloß 19 Minuten brauchen sie, um sich gegenseitig in Posten zu wählen, für jeden der vier ist etwas dabei, vom Fraktionschef bis zum Stellvertreter des parlamentarischen Geschäftsführers. Es ist ein Stück jüngster deutscher Parteiengeschichte, jedermann kann online dabei sein und kommentieren, was passiert. Per Twitter kommen die ersten Glückwünsche an den Fraktionsvorsitzenden nur Sekunden nach der Wahl.

Dafür vergehen ein paar Stunden, bis auf Twitter zu erfahren ist, was Parteichef Nerz am Morgen schockiert hatte: Schatzmeister Rene Brosig hat seine Kandidatur zur Wiederwahl zurückgezogen. Am kommenden Wochenende wollen die Piraten auf ihrem Parteitag in Neumünster einen neuen Vorstand wählen, und Brosig war fest eingeplant. Doch er packt es nicht mehr, zu viel Stress, zu wenig Schlaf, sagt er. Die Piraten reagieren, auf ihre Art: Trotz eines Fulltime-Jobs und Familie habe Brosig „ein komplettes Jahr seines Lebens als BuVo für die #Piraten geopfert“, dafür schlägt Vorstandskollege Matthias Schrade ein Schlagwort vor: „#DankeRene“. Und es passiert, was die Piraten als Gegenstück zum Shitstorm erfunden haben – ein „Flauschstorm“.

– „#dankerene muss trenden! Das sind wir Rene schuldig!“, schreibt PiSoPh.

– „Wir bauen keine Denkmale mehr aus Stein! Wir tweeten #dankerene einfach trending“, schreibt ImmerNurWollen.

Bildergalerie: Die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus

Es ist ein Spiel mit Twitter und dessen mathematischen Regeln, eine Art Saalwette wie bei „Wetten dass ..?“. Denn Trends zeigen, welche Schlagwörter im Moment am häufigsten vergeben werden. Es dauert nur Minuten, bis „#dankerene“ in der Liste oben auftaucht.

In Wählerumfragen sind die Piraten derzeit ganz oben, so beliebt wie nie, mal bei zehn, mal bei 13 Prozent stehen sie bundesweit. Dabei ist es eine Partei, die vielen Menschen fremd ist mit ihren Netzidentitäten, Drei-Buchstaben-Sätzen und orthografischen Eigenwilligkeiten. Außerdem kommt ihr immer wieder Führungspersonal abhanden, wie jetzt Rene Brosig. Marina Weisband, politische Bundesgeschäftsführerin, ausgebrannt. Gerhard Anger, Semkens Vorgänger in Berlin, ausgebrannt und resigniert: „Ich ertrage es nicht länger.“

Zu den bekanntesten Gesichtern gehört mittlerweile Parteichef Nerz. Er tritt zur Wiederwahl an. Seit Monaten beantwortet er im Netz die Fragen derjenigen, die ihn wählen sollen.

– Wie stehst du zur freien Liebe, Polyamorie und so?

– Wie oft fühltest Du Dich bei Deiner Arbeit als Bundesvorsitzender der PP bereits überfordert?

– Bist du vergeben?

– Ist Piraten-Wählen im Endeffekt nicht irgendwie alternativlos?

– Die PIRATEN brauchen eine Hymne! Welche sollte das sein?

– Soll ich uns mal ne Tüte drehen, wenn wir uns wieder sehen? Man muss das drogenpolitische Programm doch auch mit eigenen Erfahrungen unterfüttern können.

Es ist, als würden fortgesetzt Nerz’ Reflexe getestet. Dem Tütendreher antwortet er: „Nicht zu kiffen war eine bewusste Entscheidung meinerseits und keine Folge eines Mangels an Möglichkeiten. Aber Danke für das Angebot.“

Was hat das mit Politik zu tun?

Was hat das mit Politik zu tun? Vielleicht mehr, als man denkt, denn wer so fragt, der will die eigene Lebenswelt mit der des Vorsitzenden abgleichen. Und vielleicht definiert sich diese neue politische Bewegung vor allem über ein gemeinsames Lebensgefühl. Es wird bestimmt davon, den Tag und viele Nachtstunden online zu verbringen, von einer technischen Kompetenz, für die die Partei zum Ventil wird.

Das zeigt sich am deutlichsten an der Urheberrechtsdebatte, in der die Piraten plötzlich als Kulturfeinde dastehen. Bernd Fachinger, Kreisvorsitzender der Piraten Wiesbaden, schreibt zwar, Musik sei Kulturgut. Aber: „Ziel muss sein, dass dieses kostenlos und damit von jedermann konsumiert werden kann. Dies erfordert eine ausreichende Sicherung der Kunstschaffenden. Schon allein deshalb bin ich ein Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens.“

Mit solchen „Umsonst und draußen“-Ideen könnten die Piraten viele Sympathien verlieren, vor allem unter Kreativen, denen dann ein Staatseinkommen knapp über dem Existenzminimum zugemutet würde. Selbstbewusst, fast schon arrogant geben sich viele in Fragen des Eigentums, ganz Avantgarde. Sie verhöhnen „Internetausdrucker“. Sie spotten über das „Raubmordkopieren“, um die Begriffe, mit denen die Gegenseite hantiert, ins Lächerliche zu ziehen. Die Haltung dahinter: Natürlich soll man im Internet Geld verdienen können, aber es ist nicht unser Problem, wie ihr das hinkriegt.

Dieser Gleichgültigkeit gegenüber fremden Interessen steht die Leidenschaft entgegen, mit der sie sich mit sich selbst beschäftigen. Jeder findet Gehör, mag sein Anliegen noch so abgelegen erscheinen. So kommt es, dass 38 Kandidaten bei der Wahl zum Bundesvorstand antreten. Neben prominenten Namen finden sich Kandidaten wie Dagmar Schlingmann, 50 Jahre, aus Xanten, „verbandelt, ein Sohn“. Ihre Forderung: „Keine Macht der maffiösen Pharmaindustrie, die mit genauso maffiösen Krankenkassen Rabbattverträge schließt.“ – Heiko Schmidt, 32 Jahre, Sexualtherapeut aus Berlin: „Ich bin der geborene Staatsmann.“ – Wolfgang Fiegen, 50 Jahre, ebenfalls aus Berlin, wirbt für sich: „seitdem ich bei den Piraten bin, geht es stetig aufwärts.“

Jeder von ihnen wird auf dem Parteitag seine Chance bekommen, sich vorstellen, Fragen beantworten. Das wird Zeit kosten. So viel Zeit, dass die Piraten es nicht schaffen werden, über ihr Programm zu sprechen. Sie erklären gern, dass sie zwar an Inhalten arbeiten, aber in ihrem eigenen Tempo. Auf Twitter dauert es nur Sekunden, um auf eine Bemerkung eine Antwort zu bekommen. Aber bis im Liquid Feedback, einer Meinungsbildungsplattform, über einen Antrag abgestimmt ist, vergehen oft Wochen. Irgendwann werden die Piraten nicht mehr nur erklären müssen, wie sie Politik betreiben wollen, sondern auch, wofür.

Fabio Reinhardt, einer von 15 im Berliner Abgeordnetenhaus, twittert über die so reibungslose Sitzung der vier Saar-Piraten: „Frage mich, ob sich bei uns auch einiges verschnellert, wenn man 11 Leute rauswirft. Vermutlich ja.“ Ein anderer Pirat antwortet: „Irgendwie macht mich dieser Tweet immer noch ein bisschen melancholisch. Verlorene Unschuld, Jugend und so.“ Die Euphorie des Anfangs weicht der Wehmut.

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