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Ursprünglich hatte die Politik eine Impfpflicht abgelehnt. Im November kippte die Stimmung.

© imago images/Bihlmayerfotografie

Pandemiepolitik ohne Ziel: Warum aus der Impfpflicht nichts werden konnte

Statt der Opposition taktierte die Regierung. So ließ sich keine Geschlossenheit erreichen, die nötig wäre, um den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Das Scheitern der Impfpflicht im Bundestag war ein politisches Debakel. Aus rechtlicher Sicht hat es dem Land immerhin vorerst eine Antwort auf die Frage erspart, ob eine derartige Maßnahme angesichts der im Grundgesetz verbürgten freiheitlichen Prinzipien überhaupt noch gerechtfertigt werden kann. Wo es kein Impfgesetz gibt, kann es auch kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts darüber geben.

Gegen eine Rechtfertigung sprechen die Corona-Erfahrungen Hunderttausender geimpfter Patientinnen und Patienten, die das Virus in der aktuellen Omikron-Variante nach einem milden, zuweilen symptomfreien Verlauf rückstandsfrei abschütteln konnten. Zugleich wurde deutlich, dass die Welle trotz Millionen Geimpfter eine Welle geblieben ist. Wer sich impft, schützt also vor allem sich selbst, weniger die anderen. Mögliche Spätfolgen, sowohl der Erkrankung wie auch der Impfung, müssen bei der Rechnung notgedrungen ausgeklammert bleiben. Sie sind schlecht kalkulierbar. Der Vers Erich Kästners, wonach leben immer lebensgefährlich ist, erweist sich in Pandemiezeiten als besonders bedenkenswert.

Ein Piks? Oder eine fundamentale Einwirkung auf die menschliche Physis?

Glücklicherweise kommen auch die Intensivstationen der Krankenhäuser trotz Alptraum-Inzidenzen mit der Situation gut klar. Eine Überlastung des Gesundheitssystems ist aktuell fernliegend. Die Pandemie ist zwar weder harmlos noch ist sie vorüber. Aber sie ist derzeit längst nicht so gefährlich wie sie schon einmal war. Im Sommer wird sie zeitweilig politisch vergessen sein, wie in den vergangenen beiden Jahren.

Diese Aussicht lässt den mit der Impfpflicht verbundenen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mehr denn je im Zwielicht erscheinen: Ein Piks? Oder eine fundamentale Einwirkung auf die menschliche Physis? Die weiter bestehende Uneinigkeit darüber ist im Bundestag zur Gewissensfrage umgemünzt worden, mit dem bekannten Ergebnis. Den eigenen Körper in dieser Weise staatlichem Zugriff ausliefern zu müssen, erinnert die einen an das Schicksal Strafgefangener. Andere krempeln einfach mal den Ärmel hoch und machen kein Gewese darum. Es ist ein sehr persönliches Empfinden, das hier objektiviert werden muss. Mit einer geschlossenen Politik, namentlich in den Reihen der Regierung und der Koalition, hätte es vielleicht klappen können. Aber so, wie das Projekt angelegt war, eher nicht. Aus der Freiheit von der Fraktionsdisziplin wurde eine Form der Beliebigkeit.

Der Vorrat an Gemeinsinn war erschöpft

Ob die Impfpflicht überhaupt hilfreich ist oder, im Gegenteil, den Widerstand Ungeimpfter erst recht herausgefordert hätte, bleibt nun Spekulation. Diesem Konflikt ausgewichen zu sein, ist auf der Habenseite der Unentschlossenheit zu verbuchen. Die Nichteinigung könnte dann ein Ausdruck tieferer Weisheit des parlamentarischen Prozesses gewesen sein. Näher aber liegt eine anderer Deutung: Die großkoalitionäre Zusage, die Pandemie ohne Impfpflicht zu bekämpfen, wurde im vergangenen November leichtfertig einkassiert. Zugunsten einer Stimmung, nicht aus Gründen echter Notwendigkeit. Zu diesem Zeitpunkt schien der Vorrat an Gemeinsinn erschöpft. Für die Qual mit Lockdowns und Kontaktsperren musste es außer dem Virus Schuldige geben, die man zur Verantwortung ziehen kann. Die Duldsamkeit der Mehrheit gegenüber Esoterikern und Querfrontlern schlug um in echte Aversion.

Das Bekenntnis zur Impfpflicht sollte diese Gefühle bedienen und zugleich bemänteln, dass die Pandemiepolitik unter den Bedingungen der Ampel an Schärfe verlieren wird. Bewirkt hat dieses Kalkül, wie nun zu besichtigen ist, umfassende Vertrauens- und Orientierungsverluste. Während zuvor die Opposition mit Pandemiebekämpfungsvorschlägen taktierte, war es nun die Regierung. Das verheißt nichts Gutes für den Herbst, wenn die Lage wieder ernster wird.

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