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Christian Hirte (CDU) ist der neue Ostbeauftragten der Bundesregierung.

© Mike Wolff

Ostbeauftragter der Regierung: "Ostdeutsche haben besonders hohe Erwartungen an den Staat"

Ostdeutsche sehen den Staat besonders kritisch - und haben zugleich besonders hohe Ansprüche an ihn, sagte der neue Ostbeauftragte Christian Hirte. Ein Interview.

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Herr Hirte, Sie waren 13 Jahre alt, als 1989 die Mauer fiel. Welche Erinnerungen haben Sie noch an die DDR?

Ich bin ganz im Westen der ehemaligen DDR aufgewachsen, vom Bauernhof meiner Großeltern waren es noch fünfzig Meter bis zum Zaun. Die Geschwister des Großvaters lebten auf der anderen Seite. Da spürt man selbst als 13Jähriger, was Politik bedeutet. Zumal, wenn man katholisch ist, als einziger in einer Schule mit 1000 Schülern, und sich dafür auch öffentlich rechtfertigen muss. Wenn Sie mich fragen, ob ich trotzdem ein Kind der DDR bin, dann kann ich nur sagen: Auf jeden Fall. Aber eben nicht nur.

Sie sind im südthüringischen Bad Salzungen aufgewachsen, haben in den frühen neunziger Jahren in Jena studiert. Wie haben Sie die Zeit der Wiedervereinigung in Thüringen erlebt?

Für mich war das ein Glück. In der DDR hätte ich mit Sicherheit kein juristisches Studium beginnen können. Sehen Sie, ich war 17, als ich begann mich politisch zu engagieren, bin sehr rasch in der Thüringer CDU vorangekommen und wurde in den Bundestag gewählt. Ich gehöre zweifellos zu den Gewinnern all dessen, was seit 1990 passiert ist.

Noch heute, 28 Jahre nach der Wiedervereinigung, wird viel von speziellen ostdeutschen Lebenserfahrungen gesprochen, die in die gesamtdeutsche Politik eingebracht werden müssen. Welche sind das?

Die Ostdeutschen haben eine andere Wahrnehmung des Staates. Sie sind mit einem Staat sozialisiert worden, der allgegenwärtig und für alles verantwortlich war. Das prägt in beide Richtungen: Man ist staatlichen Bevormundungen gegenüber besonders kritisch und hat gleichzeitig besonders hohe Erwartungen an den Staat. Dazu kommt, dass wir nach dem Fall der Mauer gewaltige gesellschaftliche Umbrüche erlebt haben. Meine Familie hat Glück gehabt, mein Vater hat sich selbstständig gemacht, meine Mutter war im Krankenhaus tätig. Aber um uns herum haben die meisten harte Zeiten erlebt. Jobverlust, Unsicherheit in sozialen Bindungen. Niemand im Westen kann sich vorstellen, wie das ist, wenn um einen herum alles zusammenbricht, es keinerlei Gewissheit aus Erfahrung gibt und Sorgen um die Zukunft. Selbst der harte Strukturwandel im Ruhrgebiet ist dagegen eine harmlose Veranstaltung.

Das alles ist lange her. Prägen die Erinnerungen denn noch immer?

Ganz sicher. Dass die Abwehr der Ostdeutschen gegenüber den Flüchtlingen größer als im Westen war und ist, das hat etwas mit tiefsitzender Angst davor zu tun, dass die eigene Lage wieder schlechter wird. 1990 hatte ihnen der Staat auch versprochen, dass alles besser wird und erlebt haben sie den faktischen Komplettzusammenbruch der Wirtschaft. Heute, über 25 später, erfüllen sich die Wohlstandsversprechen, die Erfahrung damals war eine andere. Diese Erinnerungen machen die Ostdeutschen viel skeptischer, ob der Staat die Flüchtlingskrise bewältigen kann und lässt alte Sorgen aufleben, dass sie selbst die Konsequenzen zu tragen haben, wenn es schiefgeht. Deshalb waren die Reaktionen auch so unterschiedlich auf Angela Merkels Satz: „Wir schaffen das“. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass es bis heute sehr große ökonomische Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Das mag für viele Jüngere kein Thema mehr sein. Zumal, wenn sie studiert haben. Aber es gibt eben viele Verlierer der Wende und sehr viele Ostdeutsche, die sich noch immer als Bürger zweiter Klasse fühlen.

Welche Rolle spielt die geringe Repräsentanz Ostdeutscher an der Spitze von Unternehmen, Verbänden und Verwaltungen für das Selbstbewusstsein?

Das ist in der Tat ein wichtiges Thema, wie der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit meiner Amtsvorgängerin festgestellt hat. Wobei ich in ein Vertretungsdefizit in der Politik überhaupt nicht mehr sehe. Allerdings ist das in der Wirtschaft, den Verwaltungen und auch in den Medien ein Problem. Das muss sich ändern. Es gibt sehr viele Ostdeutsche mit hervorragender Ausbildung und Berufserfahrung, die für Führungsaufgaben infrage kommen und ich kann nur an alle Verantwortlichkeiten appellieren, in dieser Frage sensibel zu sein. Es gibt heute keinen Grund mehr, eine Führungsposition im Osten mit einem Bewerber aus dem Westen zu besetzen, weil der qualifizierter wäre.

Herr Hirte, wie lange braucht das Land noch einen Ostbeauftragten?

Reiner Haseloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat gesagt, es braucht zwei bis drei Generationen, um so große gesellschaftliche Umbrüche zu überwinden. Da hat er gewiss recht. Ob wir aber 75 Jahre lang einen Ostbeauftragten der Bundesregierung brauchen, wage ich zu bezweifeln.

Macht es überhaupt noch Sinn, den Osten politisch noch als zusammengehöriges Gebilde zu vertreten? Hat der kosmopolitische Leipziger nicht viel mehr mit einem westdeutschen Großstadtbewohnern zu tun als mit dem abgehängten Landbewohner in der Uckermark?

Das stimmt. Osten ist nicht gleich Osten, so wie Westen nicht gleich Westen ist. Die Strukturen verändern sich. Das sieht man allein daran, dass wir Fördergebiete nicht mehr nach Himmelsrichtungen ausrichten, sondern sehen, wo der Bedarf ist. Und doch gibt es etwas Besonderes: Wir haben im Osten nahezu keine Metropolregionen, viel mehr ländlich geprägte Regionen, die besondere Unterstützung benötigen. Wenn Sie dazu noch die besonderen historischen Erfahrungen und Prägungen der letzten Jahrzehnte nehmen, dann ist es sehr wohl noch nötig, dass sich jemand in der Bundesregierung als Interessenvertreter des Ostens versteht. Die Belange des Ostens sind Aufgabe der gesamten Koalition.

Erklären Sie uns bitte, warum die Zustimmung zur Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Ostdeutschland so viel größer ist als in den alten Bundesländern.

In der Tat beobachten wir, dass sich die Ablehnung russischer Politik im Osten Deutschlands, die es Anfang der neunziger Jahre gab, nun in ein starkes Verständnis umgewandelt hat. Ich vermute, dass das etwas mit gemeinsamer Erfahrung von wirtschaftlichem Niedergang und großen sozialen Umbrüchen zu tun hat. Womöglich gibt es da so etwas wie eine Solidarität der gefühlten Verlierer gegenüber dem Westen. Ich sehe darin aber auch eine große Chance für Deutschland. Denn wir befinden uns geradezu in einer Mittellage zwischen Ost und West und können es als Vorteil sehen, dass wir einerseits eine feste Westbindung und andererseits ein Verständnis dafür haben, wie der Osten und Russland ticken.

Worin sehen Sie Ihre Aufgaben als Ostbeauftragter der Bundesregierung?

Ich will Lobbyist der Ostdeutschen sein. Das heißt, dass ich in jedem Bereich der Politik, ob das Gesundheits-, Renten- oder Wirtschaftspolitik betrifft, der besondere Lage des Ostens eine Stimme geben und für die Anerkennung ihrer Interessen kämpfen möchte. Nicht jammernd und klagend, sondern ganz selbstbewusst. Ostdeutschland ist, bis auf wenige Ausnahmen, wirtschaftlich außerordentlich strukturschwach. Es gibt hier kaum Zentralen großer Konzerne und Behörden, hier gibt es keine Unternehmen, die ihren Facharbeitern Jahresboni von 4000 Euro zahlen. Das alles hat Auswirkungen auf die Entwicklung von ganzen Regionen und das bedeutet für mich als Verantwortlichen, mich dafür einzusetzen, dass gezielte Unterstützung geleistet wird. Etwa bei der Digitalisierung: Weil der Osten ländlicher geprägt ist, gibt es weniger Interesse der Kommunikationsunternehmen beim Ausbau mit Breitbandtechnik, was die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens wiederum schmälert. Hier einzuschreiten und spezielle Lösungen zu finden, ist ganz wichtig.  Das gleiche gilt übrigens auch für das Ärztethema, denn im Osten schlägt der Landarztmangel wegen der Strukturen viel deutlicher zu Buche als im Westen.

Das sind alles Themen, die sich auch der neue Heimatminister Horst Seehofer vorgenommen hat.

Das stimmt, weshalb ich auch erwarte, dass wir eng zusammenarbeiten werden, um Themen und auch Lösungen zu erarbeiten.

Herr Hirte, der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat vor ein paar Tagen behauptet, abweichende Meinungen von Ostdeutschen, etwa in der Flüchtlingspolitik, mündeten oft in eine Stigmatisierung. Hat er Recht?

Über die ostdeutschen Erfahrungen haben wir ja bereits gesprochen. Das führt natürlich oft zu einem Gefühl der Bevormundung, wenn es moralgeschwängerte Kritik hagelt. Ich will hier überhaupt nicht Partei ergreifen für das, was Herr Tellkamp gesagt hat, denn es stimmt einfach nicht, wenn Herr Tellkamp sagt, es würden 95 Prozent der Asylbewerber wegen des Sozialsystems zu uns kommen. Eine Zahl aus dem letzten Jahr. 75% der anerkannten syrischen Flüchtlinge erhalten Hartz IV. Das ist ein unglaublich hoher Wert. Dennoch ist es bis zu 95% schon noch ein großer Unterschied. Aber Tellkamp spricht erkennbar für Tellkamp und ich verstehe nicht, warum es der Suhrkamp-Verlag für nötig empfindet, sich sofort von seinen Worten zu distanzieren. Denn das führt sofort zu einer aufgeheizten Debatte, die niemandem hilft.  

Sind die Ostdeutschen fremdenfeindlicher als ihre Nachbarn im Westen?

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es weite Teile Ostdeutschlands gibt, in denen Menschen keinerlei Erfahrungen mit Fremden hatten und akzeptieren, dass daraus Ängste erwachsen.

Muss man Fremdenfeindlichkeit hinnehmen?

Sobald Menschen angefeindet, gar angegriffen werden, ist gar nichts hinzunehmen. Ostdeutsche sind bis 1990 und auch danach kaum mit Ausländern in Berührung gekommen sind.  Wenn in Frankfurt/Main 1000 Ausländer zuziehen, dann merkt das niemand. In Görlitz ist das anders, dort reagieren die Menschen viel unmittelbarer auf junge ausländische Männer, die sich danebenbenehmen. Derzeit wird viel über Cottbus geredet. Dort hat sich binnen 3 Jahren die Zahl der Ausländer etwa vervierfacht. Es sind immer noch weniger als in Stuttgart oder Köln, aber ich möchte die Region in Deutschland sehen, wo so eine Entwicklung binnen kurzer Zeit nicht auf massive Verunsicherung treffen würde.

In Sachsen hat die AfD bei der Bundestagswahl mehr Stimmen bekommen als die CDU, dort hat Pegida seinen Anfang genommen. In Thüringen finden rechte Konzerte statt und auch in vielen anderen Regionen des Ostens ist die Bereitschaft, rechtspopulistischen Strömungen zu folgen, groß. Lässt sich das alles damit erklären, dass Ostdeutsche in der DDR kaum Berührung mit Ausländern hatten?

Es ist zunächst menschlich, wenn jemand ablehnend reagiert auf Fremdes. Der Akademiker mit Auslandserfahrung mag das anders sehen, aber – siehe oben – der lebt nicht in Frankfurt/Oder, sondern in Frankfurt/Main. Die AFD ist mittlerweile eine geradezu rechtsextreme Partei, die Wählerstimmen deute ich dennoch anders – hier geht es den meisten um eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit „denen da oben.“

Haben die Ostdeutschen ein besonderes Problem mit Rechtsextremismus, wie es Ihre Vorgängerin Iris Gleicke behauptet?

Wir können nicht verleugnen, dass es diese Probleme im Osten gibt. Allerdings haben wir ähnliche Phänomene auch in westdeutschen Regionen.

In Ostdeutschland geschehen 50 Prozent der rechtsextremistischen Gewalttaten - bei einem Anteil von 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Es gibt Gegenden, in die Farbige nicht gehen, weil sie berechtigte Sorge um Leib und Leben haben.

Das ist natürlich völlig inakzeptabel und alle, die Verantwortung in der Gesellschaft tragen, müssen sich darum kümmern, dass diese Probleme angegangen und gelöst werden.

Schadet Fremdenfeindlichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten?

Definitiv. Was Dresden an politischer Öffentlichkeit erlebt hat, war keine Werbung für den Wirtschaftsstandort.

Sehen Sie es als Ihre Aufgabe an, etwas gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu unternehmen?

Der Bund hat dafür viele Maßnahmen unterstützt, ich bin sicher, dass dies weiter geschieht. Meine Aufgabe ist es, die Entwicklung der Regionen zu befördern. Wenn es den Menschen gut geht, wenn sie Entwicklungsperspektiven für sich und ihre Kinder sehen, dann verlieren sie Ängste und die Ablehnung gegen Fremdes wird zurückgehen. Wir als CDU müssen die Menschen durch politisches Handeln davon überzeugen, dass es nicht gut gehen wird, wenn sie populistischen oder sogar nationalistischen Parolen glauben. 

Herr Hirte, der Bundesrat will die Anerkennung von Opfern des SED-Regimes und auch die Möglichkeit der Stasi-Überprüfung im öffentlichen Dienst, die eigentlich 2019 enden sollen, entfristen. Ist das richtig oder muss es einen Schlussstrich geben?

Ich habe keine konkreten Zahlen dafür. Aber es ist doch klar: Wer unter dem SED-Regime gelitten hat, muss Unterstützung bekommen. Und wenn es noch Stasi-Mitarbeiter gibt, die jetzt in öffentliche Ämter kommen, dann wird niemand Verständnis dafür haben, wenn ihre Überprüfung wegen einer Frist entfällt. Mein Gefühl sagt mir, dass die Zeit darüber richten wird und es deshalb nicht klug wäre, wenn die Politik dafür einen Schlussstrich zieht. Die Berliner Debatte um Andrej Holm hat gezeigt, dass das Thema vielen Menschen weiter wichtig ist.

Durch die gerade beschlossene Rentenangleichung werden zwar vier Millionen Rentner im Osten besser, sechs Millionen Arbeitnehmer für ihre spätere Rente aber schlechter gestellt. Ist das gerecht?

Ja, es gibt im Moment eine Privilegierung ostdeutscher Arbeitnehmer. Und ich denke, dass es 35 Jahre nach der Wiedervereinigung keinen Grund mehr für zwei unterschiedliche Rentenrechte in Deutschland gibt. 

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