zum Hauptinhalt
Nach dem Coronarat: Michael Müller, Angela Merkel und Markus Söder

© Hannibal Hanschke / Reuters Pool

Nummer Sicher oder Unsicher?: So kam es zu den Beschlüssen beim Corona-Gipfel

Bei den Corona-Beratungen stoßen zwei Strategieansätze aufeinander: Angela Merkel will auf "Nummer Sicher" gehen, vor allem SPD-Länder bremsen.

Von

Geschichte, sagt man, wiederholt sich nicht. Beim Corona-Sondergipfel von Bund und Ländern ist sich mancher in der Bundesregierung aber nicht mehr sicher: "Das hatten wir doch alles schon!", stöhnt einer genervt.

Das Tauziehen zwischen Lockerern und Hardlinern ist zurück, mit etwas anderer Zielrichtung. Niemand will geltende Lockdown-Regeln aufheben. Doch an der Frage, wie auf die Virus-Mutationen reagiert werden soll, scheiden sich die Geister.

Sachte nachsteuern und abwarten? Oder vorsorglich massiv dagegenhalten - das ist die Frage.

Eine klare Antwort ist schwierig, weil wenig sicheres Wissen vorliegt über die britische Virus-Variante B.1.1.7 und andere Mutationen, die Wissenschaftler für bedrohlich halten. Klar scheint nur, dass sie zwar nicht tödlicher für den Einzelnen sind, aber ansteckender und damit gefährlicher für Gesundheitssystem und Gesellschaft.

Als Kanzlerin Angela Merkel am Vorabend der Beratung wieder zu einer Runde mit Wissenschaftlern einlädt, beziffern die Experten das Ansteckungsrisiko auf 40 bis 50 Prozent höher als die Urform von Sars-Cov19. Der Biochemiker Rolf Apweiler, der in Großbritannien forscht, berichtet von einer unbemerkten, rasanten Ausbreitung der Mutation während der Weihnachtszeit und rät, eine Wiederholung dieses Musters in Deutschland mit allen Mitteln zu verhindern. Sei das neue Virus erst einmal breitflächig da, sei es sehr schwer zu stoppen.

Ein Idealplan, der schwierig umzusetzen wäre

Andere Experten - Virologen, aber auch der Wirtschaftsforscher Clemens Fuest vom Münchner Ifo-Institut - plädieren in einem elfseitigen Papier für einen Strategiewechsel. Ihr Ziel: Die Zahl der Infektionen nicht nur weiter im beherrschbaren Bereich halten, sondern das Virus in einem europaweiten Kraftakt auf dem Kontinent praktisch ausrotten. Merkel ist für Radikallösungen notfalls offen. Aber sie weiß auch, dass die im dicht verflochtenen Europa nicht nur politisch viel schwerer umzusetzen wären als im Vorbild für die Covid-Null-Strategie, dem australischen Melbourne.

Der Hesse Volker Bouffier zeichnete neulich die Alternative auf, vor der Merkel sich sehe: Entweder abwarten, bis man mehr wisse über die Mutation - mit dem Risiko, dass es dann schon zu spät ist. Oder die neue Gefahr präventiv stoppen - mit dem Risiko, dass Bürger, Gerichte und öffentliche Meinung nicht mitgehen.

[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]

Merkel selbst fasst es am Dienstag zum Auftakt der Beratungen noch knapper zusammen: „Gehen wir auf Nummer Sicher, oder gehen wir auf Nummer Unsicher?“, zitieren sie Teilnehmer.

Besonders SPD-regierte Länder, Niedersachsen und Hamburg vorweg, neigten aber zum Abwarten. Aktuell sinken viele Kurven, dazu komme eine allgemeine Pandemiemüdigkeit – jetzt scharf anzuziehen, fürchten sie, werde niemand verstehen. Sie verwiesen darauf, dass in der Forscherrunde geschätzt wurde, dass bisher etwa ein Prozent der Infizierten in Deutschland von der Briten-Mutation betroffen ist - in Großbritannien seien es dagegen schon im Spätherbst mindestens zehn Prozent gewesen, argumentierten sie. Wollte sagen: Zu viel Panik im Kanzleramt.

Sind die Wissenschaftler parteiisch ausgesucht?

Der Kanzlerin wurde obendrein vorgeworfen, sie wähle die Forscher für das Vorgespräch gezielt aus: „Das ist gelenkte Demokratie von Frau Merkel“, giftete ein SPD-Ländermann. Als Kronzeuge wird der Pandemie-Fachmann Klaus Stöhr genannt. Hamburgs Regierender Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) habe ihn benannt, das Kanzleramt abgelehnt.

[Mehr zum Thema: Schutzwirkung, Preis, Zertifizierung – wie man gute FFP-2-Masken erkennt und was sie kosten]

Und so machte sich die sogenannte A-Seite der SPD-regierten Länder kräftig ans Streichen in der Beschlussvorlage des Kanzleramts. Das Wort „riskieren“ stieß ihnen auf. Den Hinweis darauf, dass sich die Mutation möglicherweise „stärker“ unter Kindern und Schülern verbreite als die alte Form, mochten sie nicht unterschreiben.

Stritt mit Merkel über das Thema Schulen: Die Schweringer Regierungschefin Manuela Schwesig.
Stritt mit Merkel über das Thema Schulen: Die Schweringer Regierungschefin Manuela Schwesig.

© AFP/Tobias SCHWARZ

In der Runde führt die Schulfrage später wieder zu stundenlangen Kontroversen. Die Schweriner Regierungschefin Manuela Schwesig kritisierte die Unionsseite, man könne nicht Schulen weiter einschränken und bei Betrieben nichts machen. Merkel gab genervt zurück: „Ich lass' mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle oder Arbeitnehmerrechte vernachlässige!“ Schwesig schlug später versöhnliche Töne an: Wäre schön, wenn man sich mal wieder auf ein Glas Wein sehen könnte. Als Merkel am späten Abend die Beschlüsse vortrug, war das "stärker" in ihrem Vortrag aber wieder drin.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Gar nicht einlassen wollten sich die SPD-Länder auf einen Vorsorgebeschluss über den 15. Februar hinaus. Das Kanzleramt hatte vorgeschlagen, dass auch in Gebieten mit weniger als 200 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern schärfere Maßnahmen greifen müssen, wenn der Zielwert von 50 bis dahin nicht in Sicht ist. Die SPD-Seite wollte den Passus komplett streichen. Aber auch er fand sich im Abschlusspapier wieder, wenn auch milder formuliert.

Die Kanzlerin gegen die Länder - ein bekanntes Bild

Und so kam einem das Bild tatsächlich bekannt vor: Merkel gegen die Länderfürsten.

Im Kanzleramt erinnerten sie mahnend an die Runde vom 14. Oktober. Bis dahin, so die Lesart der Regierung, sei die zweite Welle beherrschbar gewesen. Erst als ein Länderclub der zögernden Bedenkenträger sich gegen Merkels scharfen Kurs gesperrt habe, sei die Lage entglitten. Tatsächlich hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) eingeräumt, er habe damals unrecht gehabt.

Ob Merkel erneut recht behält? Oder diesmal übervorsichtig ist?

Kai Nagel, Forscher von der TU Berlin, gehört in der Forscherrunde zu den Befürwortern weiterer Einschränkung. Wenn seine Simulationen stimmen, sagt er, werde die Briten-Mutation hier in zwei bis drei Monaten das Kommando übernehmen, selbst wenn sie jetzt erst bei einem Prozent angekommen sei. Dann müssten 40 Prozent aller Menschen geimpft sein, „um überhaupt nur wieder da zu stehen, wo wir letztes Jahr standen.“

Nagel würde Bewegung weiter einschränken. Die Ausgangssperre in der Großstadt München oder die 15-Kilometer-Grenze auf dem Land in Mecklenburg verhinderten den schnellen Abendbesuch bei Freunden; der Effekt sei jetzt schon sichtbar, sagt er.

Von generellen Ausgehgrenzen oder -verboten wollten viele Länderchefs aber nichts wissen. Nicht einmal Markus Söder war vor der Runde dringend dafür, die Zügel deutlich anzuziehen. Der CSU-Mann hatte freilich nicht das Lager gewechselt, sondern einen schlichteren Grund: In Bayern gilt schon ein Regime, wie es Merkel vorschwebte. Und am Ende folgte ihnen die Runde zumindest im zentralen Punkt: Eine Virus-Mutante, das sich doppelt so schnell ausbreite wie die alte Version, die erfordere auch doppelt so harte Maßnahmen, rechnete Berlins Regierungschef Michael Müller vor. Das war genau das, was Merkel "Nummer Sicher" nannte..

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false