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Hinweisschild zum NSU-Prozess am Oberlandesgericht München.

© dpa

Update

NSU-Prozess am OLG München: Hessischer Verfassungsschutz: Kooperiert oder gemauert?

Am 92. Tag des NSU-Prozess hat das Gericht einen ehemaligen Chef des Hessischen Verfassungsschutzes befragt. Dennoch bleibt die Rolle eines Geheimdienstlers rätselhaft, der beim NSU-Mord in Kassel anwesend war.

Von Frank Jansen

Er antwortet höflich und selbstbewusst, doch manche Antworten klingen makaber. „Überzählige Postbeamte konnten Chancen bekommen bei uns“, sagt Lutz Irrgang, ehemals Direktor des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV). Gelächter im Gerichtssaal. Doch der 72-jährige Pensionär fährt unbeirrt fort, „wir waren mit der Akquisition nicht immer ganz zufrieden“.

Doch bei Andreas T. hatte Irrgang einen guten Eindruck und schlug ihn für eine Ausbildung zum gehobenen Dienst vor. Der Ex-Chef des LfV konnte nicht ahnen, dass Andreas T. einmal für die Behörde eine gewaltige Belastung sein würde. Die dann später sogar Irrgang eine Ladung als Zeuge beim größten Verfahren zu rechtsextremen Terror in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands eintrug.

Was Irrgang dann am Mittwoch im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München aussagt, ist allerdings mager und teilweise schwer nachzuvollziehen. Der Ex-Direktor will nur wenig unternommen haben, nachdem herausgekommen war, dass Andreas T. sich mutmaßlich während des Mordes der Terrorzelle NSU an Halit Yozgat in Kassel am Tatort aufhielt, dem Internetcafé des jungen Deutschtürken. Am 6. April 2006 waren die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in das Ladenlokal gestürmt und hatten Yozgat erschossen. Andreas T. saß in einem hinteren Raum an einem Computer und chattete auf einer Flirt-Seite. Der Verfassungsschützer verließ das Internetcafé, angeblich ohne etwas gehört zu haben oder den sterbenden Yozgat zu sehen. Andreas T. meldete sich auch nicht als Zeuge bei der Polizei. Die ermittelte ihn doch, Andreas T. wanderte kurzzeitig als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft.

Das ist lange her und T. wurde nie angeklagt, aber bei manchen Nebenklägern und ihren Anwälten im NSU-Prozess schwelt der Verdacht, der damalige Verfassungsschützer habe  bei dem Mordanschlag eine dubiose Rolle gespielt. Zumindest erscheint unglaubwürdig, dass er den sterbenden Yozgat nicht gesehen haben will. Der 6. Strafsenat hat Andreas T. mehrmals vernommen, auch für diesen Mittwoch haben die Richter eine weitere Befragung geplant. Doch zuvor kommt sein Ex-Chef Irrgang.

Suspension bis auf Weiteres

Er will sich im Fall Andreas T. weitgehend zurückgehalten haben. Darum habe ihn damals der hessische Landespolizeipräsident gebeten, sagt Irrgang. Also habe er nicht mehr getan, als von Andreas T. eine dienstliche Erklärung zu fordern und ihm im Frühsommer 2006 eine „Suspension bis auf Weiteres“ auszuhändigen. Bei der Gelegenheit, berichtet Irrgang, habe er T. gemahnt, wenn er was zum Sachverhalt zu sagen habe, wäre das der letztmögliche Zeitpunkt. Irrgang will Andreas T., der kurz zuvor Vater geworden war, das Schicksal seines Kindes vorgehalten haben. Mit den Worten, „Sie haben jetzt einen kleinen Jungen, denken Sie daran, was Sie ihm schuldig sind“. Doch Andreas T. habe nur auf seine dienstliche Erklärung verwiesen. Nichts gehört, nichts gesehen.

Irrgang sagt auch, er sei stolz gewesen, dass seine Behörde auf den „Schlag“ der Festnahme eines Kollegen sehr ruhig reagiert habe. Möglicherweise geschah beim hessischen Verfassungsschutz aber noch mehr. Der Hamburger Anwalt Thomas Bliwier, der mit Kollegen die Familie von Halit Yozgat vertritt, hält Irrgang Schriftsätze vor, in denen sich damals Ermittler über den Nachrichtendienst beklagten.

Das LfV habe im Fall Andreas T. „von Anfang an kein Interesse“ an einer Kooperation gehabt, zitiert Bliwier aus einer E-Mail der Polizei. Angeblich soll ein Verfassungsschützer geäußert haben, man habe es doch „nur mit einem Tötungsdelikt zu tun“. Irrgang antwortet vorsichtig, „dass es zunehmend zu einem Dissens kam, habe ich gespürt“. Doch das habe sich bei einem Gespräch mit der Staatsanwaltschaft im August „ausräumen lassen“. Und was danach geschah, lag nicht mehr in Irrgangs Verantwortung. Im Herbst 2006 wurde er altersgemäß pensioniert.

Irrgang betont, er habe sich stets für die Beobachtung des Rechtsextremismus engagiert. Und er selbst sei im November 2005 Opfer eines Anschlags geworden, der aus der „rechtsextremistischen Ecke“ gekommen sein könnte. Er habe in seiner Garage im Auto gesessen, als ihn ein Täter überfallen habe. Irrgang sagt, da er geistesgegenwärtig die Hupe betätigte, habe der Täter die Flucht ergriffen. Es gab dann Überlegungen, dass Irrgang vorzeitig aus dem Verfassungsschutz ausscheidet. Doch er sei bis zum Oktober 2006 im Amt geblieben, sagt Irrgang. Dann wendet er sich an die Prozessparteien, „und so bin ich heute bei Ihnen, weil sich das schicksalhaft gefügt hat“. Einigen Zuschauern klingt das zu pathetisch. Sie stöhnen genervt. Irrgang scheint es zu überhören.

Anschließend wird zum wiederholten Male im Prozess Andreas T. selbst vernommen. Doch kein Anwalt dringt mit seinen Fragen durch. Der frühere Verfassungsschützer zeigt sich auch am Mittwoch unbeirrt: Nichts gehört, nichts gesehen. Und am späten Nachmittag bricht der vorsitzende Richter Manfred Götzl die Vernehmung ab. Zschäpes Verteidiger sagen, ihre Mandantin könne sich nicht länger konzentrieren und sei nicht mehr verhandlungsfähig. Das bedeutet: Andreas T. muss noch einmal wiederkommen. Das zähe Ringen um die Wahrheit im Mordfall Kassel nimmt kein Ende.

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