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Der Historiker Saul Friedländer spricht beim Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu Beginn der Sitzung des Bundestages zu den Abgeordneten. Anlass ist der Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945.

© Kay Nietfeld / dpa

NS-Verbrechen: Die Zeitzeugen werden fehlen

Die NS-Verbrechen werden historisiert – die Pflicht wächst, sich der Gegenwart zu stellen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Bernhard Schulz

Der deutsche Kalender ist voller bitterschwerer Gedenktage. Da gibt es den 30. Januar (1933, Machtübernahme Hitlers), den 9. November (1938, Reichspogromnacht) oder den 27. Januar (1945, Befreiung von Auschwitz). Und es gibt den 8. Mai (1945), den Tag der Befreiung Deutschlands.

Befreiung? Zum 40. Jahrestag des 8. Mai hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, jeglicher Beschönigung unverdächtig, eine Rede, die ihrerseits Eingang fand in die Geschichtsbücher, weil er erstmals offiziell die „Befreiung“ an die Stelle der „Kapitulation“ setzte. Weizsäcker konnte das, konnte es auch rednerisch, und so setzte er ein für alle Mal die historisch richtige Bezeichnung durch.

Reden ist nicht Glückssache, sondern hohe Kunst

Jahre später sprach ein Bundestagspräsident namens Philipp Jenninger zum 9. November – und scheiterte krachend. Die Rede sei gut, sie sei nur falsch gehalten worden, befand Ignatz Bubis später, der sich einen gewagten Scherz daraus machte, seinerseits in einer Rede ein paar Sätze Jenningers zu zitieren, ohne dass jemand es bemerkte.

Reden, das lernte die Politik aus diesen Beispielen, ist nicht etwa Glückssache, sondern eine hohe Kunst. Und wann wäre der Anspruch, den die Öffentlichkeit mittlerweile an eine akzeptable Rede stellt, höher als bei der Rede zum Holocaust–Gedenktag? Sie wird seit 1996 vor dem Bundestag gehalten, seit 2000 fast ausschließlich von Opfern der Judenverfolgung, ehemaligen KZ-Häftlingen oder gar Auschwitz-Überlebenden. Darunter 2014 als eine Ausnahme Daniil Granin, Überlebender eines anderen Verbrechens, der Aushungerung Leningrads im Krieg.

Zeitzeugenschaft hat sich als probates Mittel erwiesen, die hohe Hürde der angemessenen Gedenkrede zu nehmen. So auch in diesmal. Am Donnerstag sprach Saul Friedländer vor dem Bundestag, und er verwendete zwei Drittel seiner Rede auf persönliche Erinnerungen – er, der als Kind unter falscher Identität im besetzten Frankreich überlebte, während seine Eltern zur Ermordung deportiert wurden.

Friedländer ist nicht nur Augenzeuge, er ist einer der großen Historiker des 20. Jahrhunderts und der Forschung zum Judenmord. Er gehört der letzten Altersgruppe an, die noch aus eigenem Erleben vom Völkermord sprechen kann, und das in all seinen furchtbaren Facetten. Die Mehrzahl der bisherigen Bundestags-Gedenkredner lebt nicht mehr. Sie waren ja schon alt, als sie sprachen, und teilten ihre Erinnerungen als Vermächtnis mit.

Die Zeitzeugen werden fehlen. Man kann allerdings auch sagen, dass es bequem war und ist, Zeitzeugen sprechen zu lassen; denn was sie berichten, sind Tatsachen, beglaubigt durch das eigene Schicksal. Die Nachgeborenen können mit solcher Autorität nicht auftreten. Die Historisierung der NS-Verbrechen schreitet unaufhörlich voran, weil das Geschehene entschwindet und die Erinnerung auf bloße Gedenktage schrumpft.

Umgekehrt wächst die Pflicht, sich der Gegenwart und ihren Gefährdungen zu stellen. Friedländer hat das bereits getan, er hat den aktuellen Antisemitismus von rechts und links gegeißelt. Das Urteil über die Vergangenheit ist gesprochen, es zu wiederholen müßig. Die Aufgabe künftiger Redner ist es, Zeichen zu setzen für Hier und Heute.

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