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NS-Opfer: Warum bekamen bisher so wenige eine "Ghetto-Rente"?

NS-Opfern, die in Ghettos arbeiteten, steht laut Bundessozialgericht prinzipiell eine Rente zu. Bisher wurden aber mehr als 90 Prozent der Anträge abgelehnt. Welche Konsequenzen hat das jüngste Urteil nun?

Schuld und Geiz vertragen sich kaum und im Fall der Bundesrepublik überhaupt nicht. So hinterließ es einen denkbar schlechten Eindruck, dass sich zehntausende Überlebende der Nazigräuel aus Hunderten von Ghettos in Europa vergeblich um eine deutsche Rente bemühten. Wir haben gelitten und gearbeitet, sagten sie, nun begehrten sie schmale Eurobeträge nach einem Gesetz, das der Bundestag 2002 extra für sie beschlossen hatte, ein Gesetz für die „Beschäftigten“ in den Ghettos. Doch nicht einmal jeder zehnte Antragsteller kam durch. Jetzt hat das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel signalisiert, die Beamten sollten ihre rigide Auslegungspraxis überdenken.

70 000 Anträge auf die „Ghetto-Rente“ aus dem In- und Ausland sind bei den deutschen Behörden aufgelaufen, zwischen 100 und 200 Euro monatlich sollen auf die Konten der ehemals „Beschäftigten“ überwiesen werden. Viel Geld ist das nicht, aber doch mehr als ein Symbol innerhalb der 65 Milliarden Euro, die der deutsche Staat bislang für Wiedergutmachung aufgewendet hat. Und viele können jeden Cent gebrauchen.

Nach einer Studie des israelischen Brookdale Institute wohnt heute die Hälfte aller Holocaust-Überlebenden in Israel, zwischen 180 000 und 240 000 Menschen. Davon soll nach Angaben von Überlebendenorganisationen etwa ein Drittel unter der Armutsgrenze leben, die in Israel bei 400 Dollar monatlichem Einkommen angesetzt ist. 20 000 Menschen erhalten Gelder aus Deutschland, 40 000 weitere Unterstützung in Höhe von etwa 300 Dollar monatlich vom israelischen Staat, 30 000 hatten eine deutsche „Ghetto-Rente“ beantragt. Doch ein großer Teil der Überlebenden, meist Einwanderer aus Russland und ehemaligen Ostblockstaaten, die in den vergangenen 15 Jahren nach Israel kamen, erhalten keine spezielle Unterstützung. Denn nach israelischem Recht haben Überlebende, die nach 1953 ins Land kamen, keinen Anspruch auf staatliche Zahlungen. Auch werden Überlebende, die nicht in einem Konzentrationslager oder Ghetto waren, sondern vor den Nazis meist gen Osten flohen, bei israelischen Zahlungen nicht berücksichtigt. Immer wieder wird in Israel über Überlebende berichtet, die sich kein Fleisch leisten können und notwendige medizinische Behandlungen nicht bezahlen können.

Holocaust-Überlebende in Israel beklagen sich seit einigen Jahren immer lauter, dass zwar der Holocaust institutionell im kollektiven Gedächtnis verankert sei, für sie selbst aber wenig getan wird. Auch aus politischen Gründen. Ihr Opferimage habe sich nicht in das Konzept eines neuen jüdischen Staates fügen lassen, der sich als stark und wehrhaft präsentieren wollte. Konfrontiert mit Protesten von Überlebendenorganisationen, hat sich der Umgang jedoch gewandelt. Parlamentssprecherin Dalia Itzik räumte 2007 ein, Israel habe Entschädigungszahlungen aus Deutschland nicht an diejenigen weitergegeben, denen das Geld zustand. Zuvor hatten Finanzkontrolleure festgestellt, dass das Finanzministerium für Holocaust-Überlebende bestimmte Gelder anderweitig verwendet hat. Der damalige Ministerpräsident Ehud Olmert und seine Regierung planten, 28 Millionen Dollar für 120 000 Überlebende zur Verfügung zu stellen, was die Betroffenen entrüstete. Damit hätten sie etwa 20 Dollar pro Person monatlich bekommen. Der Fonds wurde daraufhin aufgestockt, so dass etwa 140 Dollar pro Person zur Verfügung standen.

Der BSG-Spruch vom Dienstag ist kein abschließendes Urteil; heute befasst sich ein anderer Senat mit der Sache, und wenn es Divergenzen gibt, muss der Große Senat des Gerichts sich ihrer annehmen. Dennoch wird deutlich, dass sich die Richter eine neue Behördenpraxis wünschen. Aus den lichten Höhen der Politik und getragen von gutem Willen war das Gesetz unversehens in den kantigen Alltag des Rentenrechts geraten.

Eine Ursache dafür setzte das BSG selbst, indem es strikt zwischen Zwangsarbeit und rentenversicherungspflichtiger Tätigkeit differenziert. Für die Zwangsarbeiter gab es einen Fonds, der mehr als 1,6 Millionen Betroffene mit Zahlungen zwischen 2000 und 8000 Euro entschädigte. Nur wer im Ghetto „freiwillig“ gegen Entgelt arbeitete, sollte dagegen die Rente bekommen. Die vielen enttäuschten Antragsteller beklagten Kälte und Geschichtsblindheit der Beamten, weil sie sich genötigt sahen, ihren „eigenen Willensentschluss“ darzulegen, wie es die Rentenversicherer verlangten. Zudem bekamen viele als „Entgelt“ gerade kein Geld, sondern Gutscheine oder Essen. Historiker kritisierten fehlendes Fingerspitzengefühl, wenn es darum ging, Fall für Fall einzuschätzen.

Schluss mit der Bürokratie, dies ist die Botschaft, die die Richter jetzt senden. Auch wenn es im Ghetto eine offizielle Arbeitspflicht gab, soll eine Rente gezahlt werden können, wenn der Betroffene nur irgendwie mitbestimmen konnte, wie man ihn einsetzte. „Entgelt“ seien auch Naturalien, und es sei gleichgültig, wann und wie viel die „Beschäftigten“ erhalten hätten und wie alt sie damals gewesen seien, ja sie hätten das „Entgelt“ nicht einmal selbst beziehen müssen. Sogar wenn es für die Versorgung des Ghettos aufgewendet worden sei, komme die Rente in Betracht. Damit ist die Rente praktisch für alle da, die nicht unter unmittelbarem Zwang der Nazis arbeiten mussten.

Ganz so hatte es sich die Bundesregierung nicht vorgestellt. Für mehr als ein paar tausend Antragsteller sei die Rente nicht gedacht gewesen, antwortete die Bundesregierung 2006 auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Die kleine Zahl der bewilligten Bescheide sei in Ordnung und resultiere aus der „Unkenntnis der Antragsteller“, zwischen Zwangsarbeit und sozialversicherungsrechtlicher Beschäftigung zu unterscheiden.

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