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Gedenken an das Grauen. Monument im italienischen Dorf Sant’ Anna di Stazzema, in dem die SS 1944 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübte.

© AFP

NS-Kriegsverbrechen: Das ungesühnte Verbrechen

Zehn SS-Männer sind in Italien verurteilt worden: lebenslang. Wegen Beteiligung an einem Massaker in einem toskanischen Dorf 1944. Doch Deutschland hat sie nie ausgeliefert. Und angeklagt werden sie hier auch nicht. Denn ein Stuttgarter Staatsanwalt stellte nun die Ermittlungen ein.

Der Schreibtisch von Carlo Gentile ist übersät mit deutschen, italienischen und englischen Dokumente, mit Ordnern und Büchern. Auch am Computertisch ist kein Platz mehr. Gentile bittet in die kleine Bibliothek am anderen Ende des Flurs. Später wird er immer wieder Dokumente aus seinem Büro holen, die er in Archiven im In- und Ausland gesammelt hat.

Carlo Gentile ist promovierter Historiker; er arbeitet an der Universität Köln im Martin-Buber-Institut für Judaistik. Einige seiner Papiere liegen als Kopien im Archivschrank von Bernhard Häußler. Der Stuttgarter Oberstaatsanwalt ist in Baden-Württemberg zuständig für die Verfolgung von NS-Straftätern. Gentile hatte Häußler einige seiner Akten zur Verfügung gestellt – in der Hoffnung, damit die Ermittlungen über eines der schlimmsten Kriegsverbrechen, das Deutsche in Italien verübten, zu unterstützen.

Sommer 1944: Die Lage der deutschen Besatzer in Italien wird immer schwieriger. Die Alliierten und die erstarkende Partisanenbewegung erzwingen einen mitunter überstürzten Rückzug. Am 8. August kommt es zu einem Gefecht in einer Gebirgsregion in der Nähe des Ortes Sant’ Anna di Stazzema in der Toskana. Mehrere Partisanen verlieren ihr Leben, fünf Soldaten der Waffen-SS werden verwundet. Die Italiener fliehen.

Vier Tage später die Rache: Im Morgengrauen dringen mehrere Kompanien der 16. Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ in das Bergdorf Sant’ Anna ein. Die Männer der Waffen-SS machen Jagd auf die verbliebenen Dorfbewohner und Flüchtlinge, die sich in dem Dorf sicher wähnen. Es sind Frauen, Kinder und ältere Männer. Als die Deutschen den Ort nach wenigen Stunden verlassen, liegen mehrere hundert Menschen tot auf dem Boden oder in den Trümmern ihrer Häuser – erschossen, verstümmelt, verbrannt. Darunter mehr als 100 Kinder; das jüngste ist 20 Tage alt.

Carlo Gentile befasst sich seit den 90er Jahren mit den Massakern, die Deutsche in Italien zu verantworten haben. Er arbeitet für Justizbehörden in Italien, Kanada und Deutschland als Sachverständiger. Eines seiner Themen: das Massaker von Sant’ Anna di Stazzema. Damit befasst sich seit zehn Jahren auch Bernhard Häußler. Doch begegnet sind sich der Stuttgarter Jurist und der Historiker aus Köln nur einmal – vor knapp zehn Jahren bei einem Vortrag. Einen Gutachterauftrag aus Stuttgart habe er aber nie erhalten, sagt Gentile.

Die deutsche Justiz hat sich jahrzehntelang nicht um die Verbrechen der SS, der Wehrmacht und der Polizei in Italien gekümmert. Das Gleiche gilt zum Teil auch für Italien. Denn die Regierung in Rom wollte in den 50er Jahren die heftig umstrittene Wiederbewaffnung Westdeutschlands und den geplanten Nato-Beitritt nicht mit NS-Verfahren erschweren. Zudem war sie nicht daran interessiert, „Verbrechen, die in der Zeit des Diktators Benito Mussolini begangen wurden, nachhaltig aufzuklären“, sagt Gentile.

1994 werden im Keller des Palazzo Cesi in Rom Ermittlungsakten über Kriegsverbrechen gefunden, die die Alliierten den Italienern hinterlassen hatten. „Schrank der Schande“ wird der Fundort seither genannt. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg erfährt davon zwei Jahre später. Ermittelt wird aber nur in Italien.

Die Journalistin Christiane Kohl nennt 1999 in der „Süddeutschen Zeitung“ Namen von möglichen Tätern. „Da waren wir ein bisserl rücksichtslos“, gestand ihr der ehemalige SS-Mann Horst Eggert, der 30 Kilometer von Stuttgart entfernt wohnte. „Mit diesem und anderen Berichten war das öffentliche Interesse da“, sagt Carlo Gentile.

Anfang 2002 leitet die Zentrale Stelle Vorermittlungen ein, die sie im Herbst desselben Jahres abschließt, um Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler den Fall zu übergeben.

2005 verurteilt ein Gericht in La Spezia zehn angeklagte Deutsche zu lebenslangen Freiheitsstrafen, da sie sich an einem gezielten Massaker an der Zivilbevölkerung beteiligt hatten. Doch keiner der ehemaligen SS-Männer ist anwesend. Deutschland musste sie gegen ihren Willen nicht ausliefern.

„Nach dem Urteil von La Spezia bestand der hinreichende Tatverdacht, der für eine Anklage ausreicht“, sagt die Strafverteidigerin Gabriele Heinecke. Sie vertritt die Interessen von Enrico Pieri, eines Überlebenden des Massakers. Immer wieder stirbt in der Folgezeit einer der SS-Männer. Von den insgesamt 17 Beschuldigten leben heute noch acht.

Im Juni 2012 legt die LKA-Ermittlungsgruppe „Nationalsozialistische Gewalt“ ihren Abschlussbericht vor. Kurz danach erscheinen die Ergebnisse von Marco Gentiles Forschungsarbeit über die Rolle der Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg in Italien als Buch. Noch hätte Bernhard Häußler die Möglichkeit gehabt, die neueste historische Forschungsarbeit für seine Entscheidung auszuwerten. Ob er es getan hat, ist unbekannt. Zu einem Gespräch ist er nicht bereit.

Häußler teilt vielmehr Anfang Oktober mit, dass er das Verfahren einstellt. Grund: Den Beschuldigten habe weder Mord noch Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden können. Im Gegensatz zu den italienischen Richtern ist die Staatsanwaltschaft Stuttgart der Auffassung, man könne nicht mit Sicherheit beweisen, dass das Massaker „eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung“ gewesen sei. Es bestehe „auch die Möglichkeit, dass das Ziel des Einsatzes ursprünglich die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger Männer zum Zwecke der Verschleppung nach Deutschland war“.

Während in Italien eine Spontanaktion des ganzen Bataillons aus Wut und Rache ausgeschlossen wird, erklärt Bernhard Häußler, es sei möglich, dass die Erschießung erst dann befohlen worden sei, als klar war, dass die ursprüngliche beabsichtigte „Bekämpfung von Partisanen“ nicht erreicht werden konnte.

Carlo Gentile hält diese Darstellung für historisch nicht haltbar. „Die Massaker waren insgesamt durchorganisiert und folgten einer straffen militärischen Regie“, sagt er. Dies gelte auch für das Massaker von Sant’ Anna. Für die verschiedenen Führungsebenen der Division „Reichsführer SS“ sei das Vorgehen bei den Massakern selbstverständlich gewesen. Das Modell dafür hätten sie aus Osteuropa übernommen, wo sie sich an der Bekämpfung der Partisanen und der Ermordung von Juden beteiligt hatten. Mit dieser Einschätzung ist Gentile nicht allein. So betonte der Historiker Lutz Klinghammer schon vor Jahren die Übernahme „östlicher“ Methoden.

„Das Urteil von La Spezia ist bis in die letzte Instanz bestätigt worden. In Deutschland scheitert ein Verfahren schon an der untersten“, resümiert Carlo Gentile. Die Einstellung des Verfahrens sei deshalb in Italien als Affront aufgenommen worden. Sogar Staatspräsident Giorgio Napolitano äußerte sich kritisch. Zudem haben die Italiener nicht vergessen, dass sich die Bundesregierung bis heute weigert, Überlebenden von Massakern eine Entschädigung zu zahlen.

Der Fall Sant’ Anna ist damit zu einem Politikum geworden, mit dem sich unter anderem das Auswärtige Amt in Berlin und das Justizministerium in Baden-Württemberg befassen. Häußler steht nicht zum ersten Mal in der Kritik. Bei den Untersuchungen rund um den umstrittenen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern bei einer S-21-Demonstration im Stuttgarter Schlossgarten wurde ihm vorgeworfen, dass er einseitig – nämlich vor allem gegen die Demonstranten – ermitteln ließ. Eisern hat er sich zudem geweigert, gegen Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus wegen des EnBW-Deals zu ermitteln, bis jemand anderes aus seinem Haus übernahm.

Carlo Gentile kennt auch andere Verfahren gegen NS-Täter in Deutschland. Er erinnert sich an das Massaker im toskanischen Falzano di Cortona. Gentile begleitete das Verfahren 2009 als Gutachter. Das Landgericht München I hat damals Josef Scheungraber aus Ottobrunn zu einer lebenslangen Haft wegen vielfachen Mordes verurteilt. Der ehemalige Kompaniechef hatte befohlen, unschuldige Zivilisten aus Rache für einen Partisanenüberfall zu töten. Dieses Massaker sei, abgesehen von der wesentlich geringeren Zahl der Opfer, vergleichbar mit dem von Sant’ Anna gewesen.

Wenn die bayerischen Staatsanwaltschaft diesen Fall nach den Stuttgarter Kriterien behandelt hätten, wäre es wohl nicht zur Anklage gekommen. Das Gleiche gilt für John Demjanjuk. Das Landgericht München II hat den ehemaligen Wachmann 2011 in einem weltweit beachteten Verfahren zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor verurteilt, obwohl Demjanjuk keine konkrete Tat zugeschrieben werden konnte. Im Gegensatz zu etlichen Führern der Division „Reichsführer SS“ hatte Demjanjuk im Osten nicht die Zivilbevölkerung verfolgt, sondern als sowjetischer Soldat auf der anderen Seite gekämpft. Als Kriegsgefangener war er dann für Einsätze in Wachmannschaften rekrutiert worden. Das Gericht sah in ihm dennoch einen „Teil der Vernichtungsmaschinerie“.

„Ich bin kein Jurist“, betont Gentile mit ruhiger Stimme. „Für mich ist es auch nicht wichtig, dass die alten Herren ins Gefängnis kommen.“ Entscheidend sei für ihn, „dass wir uns der historischen Wahrheit möglichst weit annähern“. Zumindest wünscht sich der Historiker, dass ein unabhängiges deutsches Gericht die Möglichkeit erhält, ein Urteil zu sprechen.

Dies fordert auch die Strafrechtlerin Gabriele Heinecke. Sie hat jetzt Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung eingelegt; sie will eine Anklage erzwingen.

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