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Mario Draghi, früherer EZB-Präsident und heute Ministerpräsident Italiens, bei einer Pressekonferenz im Februar 2021.

© Alessandra Tarantino / Pool / AFP

Notenbanken und Staaten müssen sich wappnen: Europa droht anhaltend hohe Inflation

Es besteht die Gefahr, dass die Preise in der Eurozone dauerhaft deutlich steigen. Was deshalb nun getan werden muss. Ein Gastbeitrag.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Günther H. Oettinger, ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg und EU-Kommissar für Haushalt und Personal, Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Energie, heute Präsident der Wirtschafts- und Politikberatung United Europe e.V. in Hamburg. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Marcel Fratzscher, Sigmar Gabriel, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup, Prof. Dr. Renate Schubert und Jürgen Trittin.

In vielen Ländern nimmt seit einigen Wochen die öffentliche Debatte über Fragen der Geldwertstabilität kräftig Fahrt auf. Wissenschaftler, Notenbanker, Politiker und Medien streiten über die Frage, ob Inflation in absehbarer Zeit wieder zu einem ernsthaften Problem werden könnte.

Sitzungen der großen Notenbanken werden deshalb mit Spannung verfolgt und ziehen jeweils  unterschiedliche Kommentare und Prognosen nach sich. Doch worum geht es eigentlich im Kern?

Vor der Beantwortung dieser Frage empfiehlt sich ein kurzer Rückblick: Die 2007 ausgebrochene weltweite Finanz-  und Bankenkrise,  gefolgt von einer Staatsschuldenkrise, hat viele Zentralbanken zu einem ebenso entschiedenen wie unkonventionellen Handeln veranlasst. Im Zentrum stehen dabei – neben einer Niedrigzinspolitik – massive Anleihekäufe durch die wichtigen Notenbanken.  

Seit neun Jahren ultralockere Geldpolitik

Die Aussage des damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, hat bis heute enorme Bedeutung: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever is takes to preserve the Euro and believe me, it will be enough”, stellte Draghi im Juli 2012 fest. Sein Versprechen, im Rahmen des EZB-Mandats alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten, führte in der Krise zu einer Stabilisierung des Geldwerts und der Volkswirtschaften. Die EZB wollte so Zeit schaffen, damit die Politiker in den Staaten der Währungsunion notwendige Reformen angehen konnten.

Das ist jetzt gut neun Jahre her – doch eine Rückkehr der Geldpolitik in früher gewohnte Verhältnisse ist bisher weder in der Eurozone noch in den USA oder Japan zu beobachten. Verschiedene Krisen im vergangenen Jahrzehnt, politischer Einfluss und seit Anfang 2020 die Corona-Pandemie haben zu einer Verstetigung der ultralockeren Geldpolitik geführt.

In der Eurozone und in anderen Weltregionen war die Inflation in den vergangenen Jahren zwar gering. Oft wurde sogar vor der Gefahr einer möglichen Deflation gewarnt. Inzwischen aber hat sich die Lage erheblich geändert: Nach Angaben des europäischen Statistikamtes Eurostat stiegen die  Lebenshaltungskosten in der Eurozone über 2,2 Prozent  im Juli auf drei Prozent im August. Auch wenn nicht jeder Anstieg des Preisniveaus Indiz einer Inflation ist, erscheint es bemerkenswert, dass in Deutschland der Preisauftrieb bei fast vier Prozent lag. In den USA, der Türkei, in Russland und Brasilien war und ist dieser Anstieg noch deutlich höher.

Alarmistische Töne in der Inflationsdebatte

Welche Erklärung gibt es dafür und was ist zu tun? Zunächst einmal ist die öffentliche Debatte teilweise geprägt von alarmistischen  Tönen – etwa durch Verweise auf die Weimarer Hyperinflationserfahrung Anfang der 1920er-Jahre. Aber auch jenseits solcher Übertreibungen wird die Auseinandersetzung mit harten Bandagen geführt  und der jeweiligen Gegenseite zum Teil der Sachverstand abgesprochen. Strittig ist vor allem, ob die Geldentwertung auf zu hohem Niveau nur vorübergehender Natur ist oder ob man sie für längere Zeit befürchten muss.

In diesem Zusammenhang entscheidend ist aus meiner Sicht, dass eine anhaltende, hohe Inflation nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit mag eher gering sein, aber die Gefahr einer solchen Entwicklung besteht durchaus. Wenn man dieses Risiko nicht ausschließen kann, ist Vorsicht geboten. Alle Beteiligten sollten prüfen, was sie tun können, um im Fall einer sich abzeichnenden mittel- oder langfristigen Inflationsgefahr gut vorbereitet zu sein. Schließlich haben die Notenbanken und somit auch die EZB eine zentrale Aufgabe: die Gewährleistung der Geldwertstabilität.

Alle anderen Aufgaben, auch die Unterstützung der allgemeinen Wirtschafts- sowie der Umwelt- und Klimapolitik, sind dagegen nachrangig. Außerdem wären die Notenbanken gut beraten, im Zuge ihrer lockeren Geldpolitik verloren gegangene Handlungsspielräume wieder zurück zu gewinnen. Denn es wird künftig neue Krisen wenn nicht gar neue Pandemien geben.

Ende der Ankäufe von Anleihen könnte nötig werden

Das heißt: Sollte die Inflation auf einem gesamtwirtschaftlich schädlichen Niveau verharren, kommen die Notenbanken und auch die EZB um die Verringerung und dann Beendigung der Ankäufe von Anleihen nicht herum.

Das freilich ist leichter gesagt als getan. In jedem Fall müssen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion für ein Szenario wappnen, das eine Beendigung der Anleihekäufe und eine stufenweisen Anhebung der Leitzinsen vorsieht. Und hier kommt wieder der frühere EZB-Chef Draghi ins Spiel.

Seine „Bazooka“ war dazu gedacht, den Mitgliedsstaaten Zeit für Reformen einzuräumen. Die Bilanz fällt im Rückblick auf 2012 indes ernüchternd aus: Reformen der Arbeitsmärkte, Verbesserung von Forschung, Bildung und Weiterbildung, Modernisierung der öffentlichen Verwaltung – die Fortschritte der Mitgliedsstaaten  sind meist eher gering, jedenfalls durchweg nicht überzeugend.

Hinzu kommt: Inzwischen liegt die Gesamtverschuldung der Länder der  Eurozone bei 103 Prozent, Tendenz steigend. Die Schuldentragfähigkeit gerade der südeuropäischen Länder würde bei einer Anhebung der Leitzinsen schnell in Gefahr geraten.

Wähler werden mit kaum zu verantwortenden Versprechen geködert

Darüber hinaus spielt im globalen währungspolitischen Gefüge die US-Notenbank Fed und ihr Präsident Jerome Powell eine herausragende Rolle. Sollte die Fed, wie erwartet, ab diesem Herbst ihre monatlichen Anleihekäufe verringern und später auch die Leitzinsen anheben, gerieten andere große Notenbanken und insbesondere die EZB sofort unter starken Handlungsdruck. 

Doch zurück zu Europa: Viele Mitgliedsstaaten der Eurozone haben ihre Bürger in den vergangenen Jahren nicht hinreichend auf notwendige Reformen und das Gebot der Haushaltskonsolidierung vorbereitet. Im Gegenteil: Wie gerade wieder im Bundestagswahlkampf zu besichtigen ist, will man die Wähler mit Versprechen ködern, die ordnungs- und haushaltspolitisch kaum zu verantworten sind.

Immerhin scheint zumindest Italiens Regierungschef Mario Draghi auf gutem Wege zu sein, in seinem Land jene Reformen in Angriff zu nehmen, die er seinerzeit als EZB-Präsident gefordert hat – etwa die Liberalisierung des Arbeitsmarkts und die Modernisierung der Verwaltung. 

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Vor diesem Hintergrund ist auch an die politische Verantwortung der europäischen Institutionen zu erinnern – vor allem an die Verantwortung der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank. Die Europäische Kommission als Hüterin der europäischen Verträge muss im Zuge ihrer länderspezifischen Empfehlungen stärker  als bisher Reformen anmahnen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Eurozone im internationalen Vergleich voranbringen. Außerdem darf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag vertagt werden. 

Und die EZB? So wie Mario Draghi 2012 mit Erfolg deutliche Worte an die Finanzmärkte gerichtet hat, muss EZB-Präsidentin Christine  Lagarde 2021 deutliche Worte an die Regierungen der Eurozone-Länder richten. Dabei geht es nicht um Freundlichkeit und Diplomatie, es geht vielmehr um Klarheit und Nachdruck.

Günther H. Oettinger

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