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Im Libanon ist die wirtschaftliche Not groß, immer mehr Menschen verarmen.

© Mohamed Azakir/Reuters

Not in Nahost: Wie Corona die wirtschaftlichen Probleme im Nahen Osten drastisch verschärft

Die Volkswirtschaften im Nahen und Mittleren Osten sind in prekärer Schieflage – die Pandemie könnte die schwere Krise einiger Länder drastisch verschärfen.

Leere Ausflugsboote auf dem Nil. Fallende Ölpreise. Hilferufe an die internationale Gemeinschaft. Die Volkswirtschaften im Nahen Osten stehen wegen der Pandemie am Abgrund.

Schon vor dem weltweiten Ausnahmezustand kämpfte die Region mit vielen Problemen. Korruption und Misswirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit bei einer schnell wachsenden Bevölkerung sowie Krieg und politische Spannungen haben Armut und Rückständigkeit in den meisten Staaten zementiert.

Nach dem Ende der Coronagefahr dürften diese Erblasten einer raschen ökonomischen Gesundung im Weg stehen. Die Wirtschaftskraft des Nahen Ostens könnte in diesem Jahr um mehr zehn Prozent schrumpfen, schätzt Paul Salem, Präsident des angesehenen Nahost-Zentrums in Washington.

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Manche Voraussagen gehen sogar von einem Rückgang um 30 Prozent aus. Salem hält wegen der Krise den Zusammenbruch einiger Staaten für möglich – mit Folgen wie Bürgerkrieg, Terrorismus und neuen Flüchtlingswellen.

Libanon – bankrott schon vor Corona

Es war ein Offenbarungseid, der Beobachter kaum überraschte. Anfang März verkündete die libanesische Regierung, der Zedernstaat werde seine fällig werdenden Schulden im Ausland in Höhe von gut einer Milliarde Dollar nicht bedienen – das erste Mal in der Geschichte des Libanons. Auch wenn der Ruf und die Glaubwürdigkeit litten – die Staatskasse sei nun mal leer, die Devisenreserven erschöpft.

Mit anderen Worten: Das Land lebte zu lange über seine Verhältnisse und ist nun pleite. Die Schuldenlast beträgt schwindelerregende 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und zählt zu den höchsten der Welt. Mehrfach hatten Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit herabgestuft.

Die Libanesen protestieren gegen die miserablen Lebensumstände und die weit verbreitete Korruption.
Die Libanesen protestieren gegen die miserablen Lebensumstände und die weit verbreitete Korruption.

© Anwar Amro/AFP

Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise des Libanons ist wohl die schwerste seit der Gründung des Staates 1943. Tiefgreifende Reformen sind überfällig, aber noch nicht ernsthaft in Angriff genommen worden. Korruption und Vetternwirtschaft lähmen vor allem den öffentlichen Sektor. Das libanesische Pfund verliert fast täglich an Wert, die Preise schnellen in die Höhe.

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Um sich finanziellen Spielraum zu verschaffen, versuchten die Regierenden im Herbst, die Steuern zu erhöhen – und provozierten damit einen Sturm des Protests. Kein Wunder. Die Menschen sind verzweifelt und empört. Viele Firmen mussten schließen. Auch Hunderte, wenn nicht gar Tausende Geschäfte haben dicht gemacht. Mehr als 200.000 Angestellte wurden entlassen.

Experten schätzen, dass schon heute 40 Prozent der Libanesen unter der Armutsgrenze leben. Tendenz steigend. Sollte sich Covid-19 ausbreiten, dürften das Land Richtung Abgrund taumeln.

Ägypten – ohne Touristen und Geldgeber

Das mit rund 100 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land des Nahen Ostens hatte große Pläne für das laufende Jahr. Experten rechneten mit einem kräftigen Wachstum von etwa sechs Prozent. Doch der Tourismus, der im vergangenen Jahr noch 13 Milliarden Dollar in die Staatskasse spülte, bricht wegen der Coronakrise ein.

Der Rückgang der Besucherzahlen könnte noch drastischer ausfallen als nach den Unruhen des Jahres 2011. Das zuständige Ministerium rechnet mit Einnahmeausfällen von einer Milliarde Dollar – pro Monat.

Schutzmaßnahmen für Besucher bei den Pyramiden von Gizeh. Doch die Touristen bleiben fern.
Schutzmaßnahmen für Besucher bei den Pyramiden von Gizeh. Doch die Touristen bleiben fern.

© Khaled Desouki/AFP

Noch eine andere wichtige Geldquelle könnte wegen der Pandemie versiegen. Ägyptische Arbeitnehmer im Ausland, insbesondere in den ölreichen Golf-Staaten, überweisen in normalen Zeiten rund 25 Milliarden Dollar pro Jahr nach Hause. In diesem Jahr dürfte diese Summe wesentlich niedriger sein, weil auch am Golf viele Betriebe geschlossen und Arbeitnehmer nach Hause geschickt worden sind.

Präsident Abdel Fattah al Sisi will mit einem Notprogramm von sechs Milliarden Dollar gegen die Krise kämpfen, aber das wird wohl nicht reichen. Ägypten hängt von Finanzspritzen der USA und des regionalen Verbündeten Saudi-Arabien ab, die derzeit selbst mit den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise beschäftigt sind.

Saudi-Arabien – ein gebremster Kronprinz

Selbst den reichsten Ländern der Nahen Ostens macht das Virus zu schaffen. Die Nachfrage nach Öl ist wegen der weltweiten Unterbrechungen in Industrie und Handel stark gesunken.

Zudem liefert sich das Königreich einen Preiskampf mit Russland auf dem internationalen Markt, der die Preise für ein Barrel (159 Liter) auf knapp 32 Dollar gedrückt hat – für einen ausgeglichenen Staatshaushalt brauchen die Saudis einen Ölpreis von etwa 85 Dollar.

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Die Regierung fordert deshalb einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge Einsparungen von 20 Prozent von Behörden und Ministerien. Auch die mögliche Absage der jährlichen Pilgerreise Hadsch, die dem Land in normalen Jahren rund zwölf Milliarden Dollar einbringt, wäre ein herber finanzieller Rückschlag.

Anders als andere Staaten in Nahost ist Saudi-Arabien allerdings reich genug, um eine schwere Wirtschaftskrise als Folge der Corona-Pandemie überstehen zu können.

Saudi-Arabiens Öleinnahmen sinken dramatisch. Dennoch dürfte das Königreich eine Wirtschaftskrise einigermaßen glimpflich überstehen.
Saudi-Arabiens Öleinnahmen sinken dramatisch. Dennoch dürfte das Königreich eine Wirtschaftskrise einigermaßen glimpflich überstehen.

© Maxim Shemetov/Reuters

Doch die Regierung in Riad muss sich trotzdem auf harte Zeiten einstellen: Das Gesundheitsministerium rechnet in den kommenden Wochen mit einem dramatischen Anstieg der Erkrankungen von derzeit 3000 auf bis zu 200.000 Fälle. Die Regierung versucht, mit Ausgehverboten gegenzusteuern, muss damit aber eine weitere Schwächung der Wirtschaft in Kauf nehmen.

Die Coronakrise bremst damit die ehrgeizigen Reformpläne von Kronprinz Mohammed bin Salman, der das Land von seiner Abhängigkeit vom Öl befreien und zu einem Hightech-Land machen will.

Syrien – vom Krieg zerstört

Nach neun Jahren Krieg ist die syrische Wirtschaft zerrüttet. Ein Kursabsturz der Währung und die Krise im benachbarten Libanon verschlimmern die Not nun zusätzlich. Viele Syrer hatten ihre Ersparnisse in libanesischen Banken in Sicherheit gebracht, kommen nun wegen der dortigen Beschränkungen aber nicht mehr an ihr Geld.

Das sich ausbreitende Coronavirus ist eine weitere Katastrophe für das Land. Die Regierung hat den Überlandverkehr gestoppt und Ausgehverbote verhängt, was die Wirtschaft zusätzlich lähmt. Die Zukunftsaussichten sind denn auch düster.

Der Wiederaufbau Syriens könnte bis zu 400 Milliarden US-Dollar kosten. Keiner weiß, woher das Geld kommen soll.
Der Wiederaufbau Syriens könnte bis zu 400 Milliarden US-Dollar kosten. Keiner weiß, woher das Geld kommen soll.

© Aaref Watad/ AFP

Schätzungen für die Kosten des Wiederaufbaus des Landes bewegen sich zwischen 250 Milliarden und 400 Milliarden Dollar. Aber weder Syrien noch die Verbündeten Russland und Iran können solche Summen aufbringen. Das Geld müsste deshalb von Europa oder den USA kommen.

Nur sind die mit teuren Programmen zur Rettung der eigenen Volkswirtschaften beschäftigt und werden wohl keine Mittel für milliardenschwere Syrien-Hilfsfonds abzweigen wollen.

Iran – Sanktionen und erwünschte Nothilfe

Mitte März bat der Iran den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Beistand. Fünf Milliarden US-Dollar würden ganz dringend als finanzielle Unterstützung des Kampfes gegen die Pandemie benötigt. Auch wenn der Währungsfonds prinzipiell willig sein sollte, der Islamischen Republik unter die Arme zu greifen – über die Kreditvergabe entscheidet der Gouverneursrat.

Dort haben die USA als größter Anteilseigner des IWF ein gewichtiges Wort mitzureden. Und Präsident Donald Trump will Teheran im Streit um das Atomprogramm durch Sanktionen zum Einlenken zwingen. Eine Nothilfe würde dieses Vorhaben konterkarieren.

Zwar werden jene Stimmen lauter, die eine teilweise und befristete Aufhebung der Strafmaßnahmen fordern. Dem Iran müsse es ermöglicht werden, zum Beispiel Medikamente und Schutzausrüstung einzuführen. Washington sieht aber bisher keinen Grund, die Sanktionen zu lockern.

Mullahs in Bedrängnis. Der Iran leidet schwer unter der Pandemie.
Mullahs in Bedrängnis. Der Iran leidet schwer unter der Pandemie.

© Ebrahim Noroozi/AP/dpa

Was das bedeutet, bekommt die Bevölkerung des „Gottesstaats“ zu spüren. Die Wirtschaft ist schon lange in einer brisanten Schieflage, manch ein Experte spricht von einem drohenden Kollaps.

Die Armut nimmt zu, die Preise schießen in die Höhe (Inflationsrate 2019: 35 Prozent), die Währung rauscht in den Keller (Wertverlust des Rial: 50 Prozent), Jobs sind kaum zu finden (Arbeitslosenquote: 17 Prozent). Die Staatskasse ist leer, nicht zuletzt durch fehlende Einnahmen aus dem Ölgeschäft. Viele Betriebe – vor allem privat geführte – mussten ihre Produktion einstellen. 2019 schrumpfte die Wirtschaft um fast zehn Prozent.

Das liegt aber nicht allein an den Sanktionen. Denn Missmanagement und Korruption sind weit verbreitet. Insbesondere die Revolutionsgarden machen Milliardengeschäfte. Viel Geld fließt zudem an pro-iranische Kämpfer, die in Ländern wie Syrien oder dem Libanon Teherans Einfluss vergrößern sollen.

Kein Wunder, dass es immer wieder zu heftigen Protesten der Bevölkerung kommt. Wenn sich Covid-19 weiter ausbreitet, dürften die ökonomischen Folgen für die Menschen verheerende Dimensionen annehmen.

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