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Viele der befreiten Frauen und Mädchen sind schwer traumatisiert.

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Nigeria: Aus den Fängen von Boko Haram befreit

Nach einem Jahr fast völliger Untätigkeit hat die nigerianische Armee innerhalb einer Woche 700 Frauen und Kinder aus der Gefangenschaft der Islamisten befreit. Doch die Mädchen aus Chibok wurden immer noch nicht gefunden.

Das Leben in den Fängen der Miliz muss grauenhaft gewesen sein. Die ersten Bilder von den befreiten Frauen und Mädchen zeigen ausgemergelte Gestalten, die teilweise so traumatisiert sind, dass sie kaum etwas erzählen können. Die Frauen, die mit dem Sender BBC gesprochen haben, berichten, dass sie schwer arbeiten mussten, dass sie höchstens einmal am Tag etwas zu essen bekommen haben, dass sie nicht einmal unbegleitet auf die Toilette durften. Vor allem aber erzählen sie, wie Boko-Haram-Kämpfer sie in der letzten Phase des Gefechts um den Sambisa-Forest, ein Waldgebiet im nordöstlichen Bundesstaat Borno, das der Miliz lange als Versteck gedient hatte, als menschliche Schutzschilde missbrauchten. Das Militär wiederum war sich oft nicht sicher, ob es eine Geisel oder eine Anhängerin der Miliz vor sich hatte. Wie viele Frauen und Mädchen bei den Kämpfen und Luftangriffen auf die Lager im Wald getötet worden sind, ist bisher nicht bekannt.

Die Befreiten suchen nach ihren Familien

Anfang der Woche hat das Militär die ersten befreiten Frauen und Mädchen der Katastrophenschutzbehörde Nigerias übergeben. Zuvor waren sie befragt worden. Ein Novum, denn die Frauen, die sich schon vorher befreien konnten, auch die 57 Mädchen, denen nach der Massenentführung von 276 Mädchen aus einer Schule in Chibok im April 2014 die Flucht gelang, waren nie vom Militär oder der Polizei gehört worden. Lediglich Mausi Segun von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch führte Interviews mit ehemals von Boko Haram festgehaltenen Frauen und Mädchen und hielt das in einem erschütternden Report fest. Doch seit Beginn der jüngsten Offensive gegen Boko Haram, die begann, nachdem die Präsidentenwahl um sechs Wochen nach hinten verschoben worden war, scheint das Militär plötzlich an Informationen interessiert zu sein.

Die ersten befreiten Frauen und Kinder sind in Flüchtlingslager gebracht worden. Wohin es ihre Familien auf der Flucht vor Boko Haram oder dem Militär verschlagen hat, wissen sie nicht. Es kann Monate dauern, bis die Identität aller Befreiten geklärt und Angehörige gefunden sind.

Die Chibok-Mädchen sind weiterhin vermisst

Bisher war offenbar keine der befreiten Frauen oder Mädchen Teil der Chibok-Girls, von denen sich 219 nach wie vor in der Hand ihrer Entführer befinden. Der Sprecher des nigerianischen Verteidigungsministeriums, Chris Olukolade, sagte Anfang der Woche: „Wir haben die Hoffnung, noch mehr Geiseln zu befreien.“ Amnesty International schätzt die Gesamtzahl der entführten Frauen und Mädchen auf 2000.

Als die Nachricht von der Entführung von knapp 300 Mädchen aus ihrer Schule in Chibok , wo sie ihre Abschlussprüfungen machen wollten, bekannt wurde, waren viele Nigerianer schockiert. Zum einen, weil diese unschuldigen Mädchen Opfer einer fanatischen Sekte geworden waren, die ihnen mit Gewalt Bildung vorenthalten wollte. Aber auch, weil gerade im Nordosten Nigerias nach wie vor nur wenige Mädchen überhaupt in die Schule gehen dürfen. Bildungspolitiker befürchteten einen schweren Rückschlag ihrer Bemühungen um die Mädchenbildung. Im ganzen Land kamen Menschen zusammen, um für die Rückkehr der Mädchen zu beten.

Die nigerianische Armee zerstört nach der Befreiung die Camps im Sambisa Forest.
Die nigerianische Armee zerstört nach der Befreiung die Camps im Sambisa Forest.

© dpa

Von der Regierung des scheidenden Präsidenten Goodluck Jonathan dagegen war nichts zu hören. Obwohl Jonathan den Kampf gegen Boko Haram bereits während seiner gesamten Amtszeit nicht allzu ernsthaft betrieben hatte, hoffte die Öffentlichkeit nach dieser spektakulären Entführung auf eine andere Reaktion. Drei Tage später behauptete das Militär, die Mädchen befreit zu haben, musste das jedoch schon kurz danach wieder zurücknehmen, nachdem die Landesregierung von Borno bekannt gab, dass keines der Mädchen gefunden worden sei. Während dieser öffentlichen Verlautbarungsschlacht wurden aus Tagen Wochen und Monate und schließlich mehr als ein Jahr.

Dem Präsidenten hat seine Untätigkeit das Amt gekostet

Dass Goodluck Jonathan sich nach der Entführung monatelang weigerte, die verzweifelten Eltern zu treffen, verziehen ihm die Wähler nicht. Ein Teil seiner Wahlniederlage dürfte auf das Versagen nach der Chibok-Entführung zurückzuführen sein. Auch dass die Chefin des Frauenflügels der Regierungspartei bei einem Gebetskreis öffentlich machte, warum Jonathan angeblich geschwiegen hatte, verbesserte die Reputation der Regierung nicht. Sie äußerte Zweifel daran, ob die Entführung überhaupt stattgefunden hatte. Die Regierung habe nicht gehandelt, weil man nicht suchen könne, was gar nicht verloren gegangen sei, meinte sie. Dieser Auftritt war der Anlass für empörte Frauengruppen, die Bewegung #BringBackOurGirls zu gründen, die bis heute jede Woche dafür demonstriert, die Mädchen nicht zu vergessen. Zu Beginn trafen sie sich jeden Abend in Sichtweite des Präsidentenpalasts, um ihrer Forderung Gehör zu verschaffen. Die Bewegung fand auch international viel Beachtung. Sogar die Frau des amerikanischen Präsidenten, Michelle Obama, twitterte ein Foto mit dem Schriftzug „Bringt unsere Mädchen zurück“. Aber noch immer reagierte die Regierung nicht. Patience Jonathan, die Ehefrau des Präsidenten, ließ öffentlich wissen, dass sie das Ganze für eine Verschwörung von Jonathan-Gegnern hielt. Selbst die Aussagen von Chibok-Mädchen, die hatten flüchten können, änderte an dieser Auffassung wenig. Die Mädchen berichteten, wie sie tagelang durch den Wald gelaufen waren, um von den Milizionären weg zu kommen. Andere berichteten von Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch.

Erst im Wahlkampf besuchte Goodluck Jonathan erstmals überhaupt in seiner sechsjährigen Amtszeit den Bundesstaat Borno. Dann gleich drei Mal. Aber das hat ihm nicht mehr viel genützt. Dass die Militäroffensive kurz vor der Wahl dann doch erfolgreich zu sein schien, hat die nigerianische Öffentlichkeit staunend zur Kenntnis genommen. Viele führten das vor allem darauf zurück, dass die Armeen des Tschad, Nigers und Kameruns die eigenen Soldaten im Kampf unterstützten.

Dennoch macht sich langsam Erleichterung breit, weil die Menschen die Hoffnung haben, dass die Islamisten-Miliz dieses Mal tatsächlich besiegt werden könnte. Was Boko Haram allerdings nach wie vor nicht an neuen Anschlägen und Überfällen hindert. Erst vor wenigen Tagen überrannten Boko-Haram-Kämpfer eine Insel im Tschadsee, die zu Niger gehört. Kaum jemand überlebte.

Stella Iyaji ist Redakteurin der nordnigerianischen Tageszeitung „The Daily Trust“ und arbeitet einen Monat lang beim Tagesspiegel.

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