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Sechs Schweigeminuten wird es an diesem Samstag geben, bei denen an die 2977 Toten erinnert wird.

© Jonathan Ernst/REUTERS

Update

New York gedenkt Opfer der Anschläge vom 11. September: „Es ist so schwer – ob im ersten oder im 20. Jahr“

Die USA gedenken der Toten des schlimmsten Terroranschlags ihrer Geschichte. Präsident Biden beschwört Samstag die Einheit des Landes.

Als um 8.46 Uhr die Glocken der St. John’s Church erklingen, ist es ganz still. An der Ecke Church Street/Fulton Street nicht weit von der Südspitze Manhattans stehen Hunderte und blicken in den stahlblauen Himmel. Die Sonne bricht sich in der spiegelnden Glasfassade des One World Trade Centers, jenes 94-stöckigen Wolkenkratzers, der nun anstelle der Zwillingstürme in den Himmel ragt. Flaggen wehen auf halbmast, für einen Moment scheint diese rastlose Stadt tatsächlich ein bisschen innezuhalten. Amerika gedenkt der Toten des schlimmsten Terroranschlags in der Geschichte des Landes.

Sechs Schweigeminuten wird es an diesem Samstag geben, bei denen an die 2977 Toten erinnert wird. US-Präsident Joe Biden, der am Morgen an der Gedenkfeier in New York teilnimmt, reist danach weiter, erst nach Shanksville in Pennsylvania und anschließend zum Pentagon nach Washington, wo die beiden anderen Flugzeuge an jenem Dienstag im September 2001 abstürzten.

„An diesem Tag habe ich 110 Freunde verloren“

Auch 20 Jahre später fühlt es sich für Kevin Calhoun noch genauso an wie an jenem Morgen, der das Leben so vieler Menschen für immer verändert hat. Der 63-Jährige besucht am Freitag die Stelle, an der bis 2001 der Südturm des World Trade Centers gestanden hat.

„Es war der schlimmste Tag in meinem Leben“, sagt der ehemalige Feuerwehrmann Kevin Calhoun.
„Es war der schlimmste Tag in meinem Leben“, sagt der ehemalige Feuerwehrmann Kevin Calhoun.

© Juliane Schäuble

An diesem Abschnitt des 9/11-Memorials wird der vielen Einsatzkräfte gedacht, die am 11. September 2001 ums Leben kamen. „An diesem Tag habe ich 110 Freunde verloren“, erzählt Calhoun, der damals als Feuerwehrmann aus Brooklyn zum Tatort gerufen wurde – zusammen mit allen anderen verfügbaren Einsatzkräften in der gesamten Stadt.

Wie Calhoun zieht es viele Augenzeugen immer wieder zum einstigen Ground Zero, an dem inzwischen das Memorial und ein Museum an den Terroranschlag erinnern. Am Vorabend des großen Gedenktages versammeln sich die Feuerwehrleute vor der Wache neben dem Memorial.

Später in der Nacht ragen dort, wo einst die Zwillingstürme des World Trade Centers standen, zwei blaue Lichtsäulen aus dem Boden empor. Außerdem werden das Empire State Building und andere prominente Gebäude New Yorks für einige Nächte lang rot-weiß-blau angestrahlt.

Überall im Land gibt es Gedenkfeiern

In diesen Tagen ist an vielen Orten in Amerika wieder spürbar, wie e sich anfühlt, wenn die Menschen zusammenkommen. Überall im Land finden Gedenkfeierlichkeiten, Schweigeminuten und Gottesdienste statt. Die Medien erinnern an Opfer, Helden und die Drahtzieher der Anschläge.

„Es war der schlimmste Tag in meinem Leben, aber ich würde es immer wieder tun“, sagt Calhoun, der insgesamt 29 Jahre lang als Feuerwehrmann im Einsatz war, bis er 2008 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausscheiden musste.

Wie fast alle, die am Tag der Anschläge vor Ort waren, leidet er unter den Folgen. „Atemwegserkrankungen, Krebs und was weiß ich nicht alles: Zu den am 11. September getöteten Freunden kommen 40 bis 50 meiner Kollegen, die wir in den vergangenen Jahren begraben mussten.“

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Der zeitweise lieblose Umgang der Behörden mit den Einsatzkräften von damals, die eigentlich als Helden verehrt werden, hat in den USA lange für Unmut gesorgt.

Präsident Biden beschwört in seiner Ansprache am Samstag die nationale Einheit. Das sei die größte Stärke der Vereinigten Staaten im Angesicht der Not. Biden verweist auf die „dunkleren Kräfte der menschlichen Natur – Angst und Wut, Ressentiments und Gewalt gegen muslimische Amerikaner, gegen wahre und treue Anhänger einer friedlichen Religion“.

Ein Test für die Einheit Amerikas

Dies habe die amerikanische Einheit getestet, aber nicht gebrochen. „Für mich ist dies die zentrale Lektion des 11. September, dass dann, wenn wir am verletzlichsten sind, (...) im Kampf für die Seele Amerikas, die Einheit unsere größte Stärke ist“, sagt er. „Einheit bedeutet nicht, dass wir dasselbe glauben müssen. Wir müssen einen grundlegenden Respekt füreinander und Vertrauen zueinander und in diese Nation haben.“

Präsident Joe Biden bei der Gedenkfeier in New York: „Es ist so schwer. Ob im ersten oder im 20. Jahr.“
Präsident Joe Biden bei der Gedenkfeier in New York: „Es ist so schwer. Ob im ersten oder im 20. Jahr.“

© Chip Somodevilla/Getty Images/AFP

Biden erinnert an die vielen Opfer: „Es ist so schwer. Ob im ersten oder im 20. Jahr.“ Kinder seien ohne Eltern aufgewachsen, Eltern hätten ihre Kinder verloren und gelitten.

In den Tagen nach den Anschlägen hätten viele Menschen großen Heldenmut bewiesen, sagt der Präsident. „Wir haben auch etwas gesehen, das es viel zu selten gibt: wahrhaftige nationale Einheit.“

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Zumindest an diesem Tag demonstriert das auch die politische Spitze des Landes – mit Ausnahme von Ex-Präsident Donald Trump. Mit dem Präsidenten und seiner Ehefrau Jill Biden gedenken am Samstag auch Barack und Michelle Obama sowie Bill und Hillary Clinton den Toten von New York.

Afghanistan überschattet Gedenken

In Shanksville nimmt Vizepräsidentin Kamala Harris zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten George W. Bush an der Zeremonie teil. Unter dem Republikaner, der 2001 Präsident war, zogen die Vereinigten Staaten als Reaktion auf die Anschläge erst in den Afghanistan- und dann in den Irak-Krieg. Biden wird dessen Rede im Anschluss loben – ein selten gewordenes Zeichen von Überparteilichkeit.

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Wie allerdings Biden Ende August nach fast 20 Jahren den amerikanischen Einsatz am Hindukusch beendete, überschattet das Gedenken am Samstag. Zwar hatte bereits sein Vorgänger Trump das Ende des längsten Kriegseinsatzes der USA beschlossen.

Aber das tagelange Chaos und dann der Anschlag am Flughafen in Kabul, bei dem 13 US-Soldaten getötet wurden, hat viele Amerikaner verärgert, die eigentlich für den Abzug waren – auch jene, die in den Kriegen gekämpft oder am 11. September in New York im Einsatz waren.

Calhoun sagt, es sei schlimm, dass die Welt nun wieder der Terrorgefahr ausgesetzt werde. Wie viele Experten befürchtet auch er, dass schon bald wieder von Afghanistan aus islamistische Anschläge ausgehen werden.

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