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Blumenmeer am Tatort.

© imago/Michael Trammer

Neun Wochen danach: Was bleibt vom Ausnahmezustand in Chemnitz?

Neun Wochen sind seit den Chaostagen in Chemnitz vergangen. Was sich seitdem getan hat und was man heute weiß: Ein Faktencheck.

Es waren Tage des Ausnahmezustands in Chemnitz. Nach der Tötung des 35-jährigen Daniel Hillig wurde die Stadt zum Brennpunkt. Es kam zu Übergriffen auf Ausländer, Rechtsextreme aus ganz Deutschland reisten an, AfD und Pegida veranstalteten gemeinsam einen Schweigemarsch. Gleichzeitig gab es zahlreiche Gegendemonstrationen. Am Ende kamen zu einem „Wir sind mehr“-Konzert 65 000 Besucher.

Was ist aus den Verdächtigen im Fall Daniel Hillig geworden?

Am Anfang schien sich die Staatsanwaltschaft sehr sicher zu sein. Sie sah den dringenden Verdacht, Yousif A., ein vorbestrafter Asylbewerber aus dem Irak, habe gemeinsam mit dem Syrer Alaa S. „ohne rechtfertigenden Grund“ insgesamt fünf Mal auf Hillig eingestochen. Dieser sei in der Folge an seinen schweren Stichverletzungen gestorben. Doch offenbar ist alles sehr viel komplexer.

Zum einen begann die Polizei mehr als eine Woche nach der Tat international nach einem dritten Mann, dem 22-jährigen Iraker Farhad Ramazan Ahmad, zu fahnden. Dieser sei möglicherweise bewaffnet, hieß es. Zum anderen wurde der Iraker Yousif A., der zunächst als Haupttäter erschien, nach drei Wochen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen.

Ulrich Dost-Roxin, der Charlottenburger Anwalt von Yousif A., sagte dem Tagesspiegel: „Die Beweismittel, die für den Haftbefehl herangezogen wurden, waren ,Fake Beweise’.“ Keiner der Zeugen habe seinen Mandanten der Tatbeteiligung bezichtigt. An der Tatwaffe seien keine DNA-Spuren von Yousif A. gewesen. Auch an seiner Kleidung wurde kein Blut gefunden. Dost-Roxin ist überzeugt, dass der Haftbefehl gar nicht erst hätte beantragt werden dürfen. „Mein Mandant hielt sich bei der Tat zwar in unmittelbarer Nähe auf, war aber nicht beteiligt.“ Auf Yousif A. aufmerksam geworden sei die Polizei, weil er vor einem Streifenwagen weggelaufen sei. „Ich gehe davon aus, dass man in Chemnitz einen schnellen Fahndungserfolg haben wollte, damit die Emotionen nicht noch weiter hochkochen“, sagt Dost-Roxin. Yousif A. befinde sich nun „an einem geheimen Ort und steht unter Polizeischutz“, so der Anwalt. Er selbst bekomme „Morddrohungen wie ,Kanackenanwalt, dich vergasen wir’“.

Auch der Syrer Alaa S. strebt die Aufhebung seines Haftbefehls an, obwohl die Staatsanwaltschaft Mitte September mitgeteilt hatte, der Verdacht gegen ihn habe sich noch weiter verdichtet. Unklar ist, inwieweit diese Haftbeschwerde Aussichten auf Erfolg hat.

Was ist mittlerweile über die Tat bekannt?

Einem Vertreter der irakischen Botschaft hatte Yousif A. seine Version des Geschehens erzählt. Der NDR berichtete über das Gespräch. So habe Yousif A. geschildert, dass er in der fraglichen Nacht mit Alaa S. und dem nun zur Fahndung ausgeschriebenen Farhad Ramazan Ahmad zunächst in einer Shisha-Bar gewesen sei. Auf dem Weg zu einem Döner-Imbiss seien sie der Gruppe von Daniel Hillig über den Weg gelaufen. Als Ahmad diese nach Feuer für eine Zigarette fragte, sei ein Streit aufgekommen, den er, Yousif A., versucht habe zu schlichten. Als dann aber noch weitere Bekannte dazukamen, seien Ahmad und Alaa S. erneut zur Gruppe von Daniel Hillig gegangen. Es sei zu der Messerstecherei gekommen.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz äußert sich derzeit nicht dazu, welche Erkenntnisse sie über den Tathergang hat.

Wie viele Straftaten wurden während der folgenden Demonstrationen begangen?

Auf Anfrage des Tagesspiegels stellte das Landeskriminalamt Sachsen eine Aufstellung der Delikte zur Verfügung, die es im Zusammenhang mit den Demonstrationen Ende August erfasst hat. Darunter sind 23 Fälle von Körperverletzung und 22 Fälle gefährlicher Körperverletzung. 34 Anzeigen gab es wegen „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ – das könnte zum Beispiel der „Hitlergruß“ sein. Wegen Volksverhetzung gab es sieben Anzeigen. Dazu kamen zahlreiche weitere Delikte. In der Gesamtschau werde bislang bei 74 von 183 Delikten von einer rechten Motivation ausgegangen und bei 13 Delikten von einer linken, hieß es. Mittlerweile wurden einige der Straftaten geahndet. Mitte September sind zwei Teilnehmer der Kundgebung des radikal rechten Bündnisses „Pro Chemnitz“ verurteilt worden, weil sie den „Hitlergruß“ gezeigt hatten. Der eine zu fünf Monaten Haft und der andere zu acht Monaten auf Bewährung.

Wie ist die allgemeine Sicherheitslage in der Stadt?

Nach dem Mord an Daniel Hillig kochte in Chemnitz auch eine Debatte über die Sicherheitslage in der Innenstadt hoch. Orte wie die „Zenti“ genannte Zentralhaltestelle, der nahe gelegene Stadthallenpark und eine Unterführung am Hauptbahnhof, im Volksmund „Bazillenröhre“, gelten als Kriminalitätsschwerpunkte.

Auffällig ist, dass die Zahl der erfassten Straftaten im Vergleich zu vor der Flüchtlingskrise gar nicht gestiegen ist. Das Sicherheitsgefühl der Chemnitzer hat sich dennoch massiv verschlechtert. Vier von zehn Einwohnern, das ergab im Frühjahr eine Umfrage des Chemnitzer Rathauses, fühlten sich tagsüber in der Stadt unsicher. Nachts seien es sogar 75 Prozent.

Eine Auswertung der Chemnitzer „Freien Presse“ ergab, dass bei Gewaltstraftaten im Zentrum die Täter oft nicht-deutscher Herkunft seien.

Wie hat sich die Stimmung gegen Migranten entwickelt?

Steffi Wagner seufzt am Telefon. „Wir haben den Flüchtlingen bei uns geraten, erstmal nicht auf die Straße zu gehen“, sagt sie. Die 61-jährige Chemnitzerin hat den Flüchtlingshilfeverein „Netzwerk für Integration und Zukunft“ mitgegründet, zu dem auch ein Begegnungszentrum gehört. „Beschimpfungen gegen Migranten gab es auch schon vorher“, berichtet sie. “Aber von einem Tag auf den anderen ist die Stimmung gekippt, sodass sich ausländisch aussehende Menschen wirklich fürchten.“

Einer der Flüchtlinge aus ihrem Verein, so erzählt Wagner, arbeite in einem großen Elektrotechnikunternehmen. Sein Kollege habe nach den Ausschreitungen zu ihm gesagt: „Ich fahr dich nach Hause, du fährst nicht mit dem Bus.“

In Chemnitz ist es seit den Ausschreitungen auch zu vier Übergriffen auf Restaurants gekommen. Neben einem jüdischen Restaurant waren ein türkisches und ein persisches Lokal darunter. Der Inhaber des letzteren wurde verletzt ins Krankenhaus gebracht.

Die Ablehnung gegenüber Migranten spiegelt sich laut Wagner auch in alltäglichen Situationen wider. „Kürzlich hatten wir Gerüstbauer hier, weil unser Gebäude saniert wurde. Einer starrte hasserfüllt durchs Fenster und man hat ihm angesehen, dass er gerne gespuckt hätte.“ Dem habe sie dann ganz freundlich einen Kaffee angeboten.

Wagner ist froh, dass man durch das Konzert in Chemnitz habe zeigen können, „dass wir keine rechte Stadt sind.“ Dennoch sagt sie: „Was wir hier vermissen ist der Aufstand der Anständigen, der bürgerlichen Mitte. Die lassen die Linken machen und rümpfen dann die Nase.“

Wie geht es weiter?

Zu Konflikten könnte es in Chemnitz wieder am 9. November kommen, „Pro Chemnitz“ wird wie jeden Freitag eine Kundgebung am Karl-Marx-Monument abhalten. Wegen des geschichtsträchtigen Datums – sowohl die Reichspogromnacht als auch der Mauerfall jähren sich – hat auch das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus!“ zu einer Kundgebung an dem Monument aufgerufen, um „Pro Chemnitz“ nicht das Feld zu überlassen.

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